Frage nicht “Was hättest du 1933 getan?”, sondern: “Was tust du heute?”

Eine Sache vorab: Wir beim Volksverpetzer sind keine Fans von Dystopien und Panikmache. Dass die Demokratie, die beste Regierungsform der Menschheitsgeschichte, sich ständig gegen ihre Feinde behaupten muss, ist für uns absolut kein Zeichen ihres Niedergangs. Und dennoch müssen wir, als liberale Demokrat:innen, vorbereitet auf die Mittel sein, mit denen die Feinde der Demokratie sie bekämpfen wollen. Dazu sollten wir auch die Frage stellen: Wie stirbt eigentlich eine Demokratie?

Viele Menschen glauben sicherlich, dass man das dann schon erkennen würde, wenn es so weit wäre. Dann wäre ja alles irgendwie anders als jetzt in der Demokratie, es würde sich irgendwie so anfühlen, wie in den Filmen über den NS und wir alle wären mindestens im Kopf im Widerstand dagegen – oder? Falls du so denkst, haben wir leider eher schlechte Neuigkeiten für dich. Zunächst einmal muss an der Stelle angemerkt werden, dass nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Deutschen tatsächlich Widerstand geleistet hat. Während natürlich nicht alle Deutschen NSDAP und Hitler direkt gewählt haben, hatte sich also die große Mehrheit zumindest halbwegs im NS-Staat eingerichtet. Denn auch ein totalitäres Regime ist darauf angewiesen, dass genügend Leute zumindest mitmachen.

Nun sollten wir vorsichtig damit sein, die aktuelle Lage mit der NS-Zeit (oder auch den Jahren unmittelbar davor) zu vergleichen. Das ist nicht nur historisch ungenau, sondern bringt die Demokratie auch nicht weiter – außer, wir wollen uns von vornherein selbst entmutigen. Doch wir haben hier trotzdem historisch einmal weit ausgeholt, um zu zeigen: Das Ende einer Demokratie und der Aufstieg eines autokratischen Systems zeigen sich nicht unbedingt darin, dass überall Not, Elend und offensichtliche Unterdrückung ausbrechen. Gerade für Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sind die Anzeichen, wenn überhaupt, sehr subtil. Und gerade in den letzten Jahrzehnten zeigen gleich mehrere Beispiele: Demokratie stirbt oft nicht spektakulär und laut – sondern durch tausend Nadelstiche.

Ein wichtiges Frühwarnsystem für den Zustand der Demokratien ist die Lage der Minderheiten im Land. Gut erkennbar ist das oftmals erst im Nachhinein.

Ein Beispiel dafür ist Myanmar. Das Land war 2017 durch die NGO Freedom House vom “nicht freien” zum “teilweise freien” Staat hochgestuft worden. Es gab also scheinbare Verbesserungen im politischen System. Gleichzeitig begann in diesem Jahr die Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya, die schon seit längerer Zeit Opfer staatlicher Diskriminierung waren. Mittlerweile ist Myanmar wieder zum “nicht freien” Staat herabgestuft worden, es gehört zu den 20 am schlechtesten bewerteten Staaten und Regionen.

Indien wurde von Freedom House 2021 von “frei” zu “teilweise frei” herabgestuft. Grund dafür war die zunehmende Dominanz der hindu-nationalistischen BJP, die immer mehr Freiheitsrechte einschränkte. Besonders stark von diskriminierenden Maßnahmen betroffen war demnach die muslimische Minderheit in Indien. Narendra Modi, heutiger BJP-Premierminister von Indien, soll unter anderem 2002 bereits für anti-muslimische Ausschreitungen im Bundesstaat Gujarat mitverantwortlich gewesen sein. Er war zu diesem Zeitpunkt Regierungschef von Gujarat.

Tunesien galt lange Zeit als eines der wenigen afrikanischen Länder, das den Status “frei” hatte. Es war auch der einzige Staat im Nahen Osten, der nach dem “Arabischen Frühling” 2011 tatsächlich politische Veränderungen erreicht hatte. Doch 2022 wurde das Land wieder auf “teilweise frei” zurückgestuft, nachdem Präsident Kaïs Saïed einseitig das Parlament aufgelöst und die Regierung ausgetauscht hatte. Der Niedergang der Demokratie in Tunesien war begleitet vom Aufstieg bzw. Comeback des Antisemitismus. Auch in vielen anderen Staaten des Nahen Ostens, die früher teils sehr große jüdische Communitys hatten, ging die Stärkung autoritärer Staaten mit der Vertreibung von Jüdinnen und Juden einher. So flohen zum Beispiel nach der Islamischen Revolution 1979 rund 70.000 Jüdinnen und Juden aus dem Iran. In vielen anderen Staaten leben schon seit den 1950er oder 60er Jahren kaum noch Jüdinnen und Juden.

Die Lage in diesen autoritären Staaten ist nicht mit der in Deutschland vergleichbar. Bei aller berechtigten Kritik hat Deutschland auch 2024 eine der besten Bewertungen, was politische Freiheit angeht. Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass Demokratie und Menschenrechte ein Privileg und eine hart erkämpfte Errungenschaft sind, die wir nicht für selbstverständlich nehmen können. Umso wachsamer sollten wir sein, wenn Feinde der Demokratie diese Errungenschaften angreifen.

Schon länger bekommt Deutschland von Freedom House im Bereich der gleichberechtigten politischen Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen keine Bestnote. Das liegt dem Bericht zu Folge vor allem daran, dass Frauen im Bundestag weiterhin stark unterrepräsentiert sind. Allerdings wird auch kritisiert, dass durch die sehr langwierigen Prozesse zur Einbürgerung mehrere Millionen dauerhaft in Deutschland lebende Menschen nicht wählen dürfen.

Doch auch unabhängig von Parlamenten und Wahlen traten in letzter Zeit immer mehr Warnzeichen bezüglich der Lage von Minderheiten auf. Seit dem 7. Oktober sind beispielsweise die Fallzahlen von Antisemitismus sprunghaft angestiegen. Die Bedrohlichkeit dieser Entwicklung fast 80 Jahre nach dem Ende des Holocaust ist vielen weiterhin nicht ausreichend bewusst. Gleichzeitig stieg auch der Muslimhass enorm an – ebenfalls ohne, dass die Gefahr in Medien und Politik ausreichend diskutiert wurde.

Wir sollten marginalisierten Gruppen zuhören, nicht nur über, sondern mit Menschen reden. Nicht nur, weil sich das vielleicht wie das moralisch Richtige anfühlen mag. Sondern weil sie besonders früh und besonders intensiv davon betroffen sind, wenn Demokratie und Menschenrechte ausgehöhlt werden. Damit funktionieren sie wie ein gesellschaftliches Seismometer, das sehr früh ausschlägt, wenn die Demokratie gefährdet ist.

Die Pressefreiheit ist eine der wichtigsten Grundlagen einer Demokratie. Ein System, das auf freien Wahlen und Mehrheitsentscheidungen basiert, benötigt zwingend auch unabhängigen und freien Journalismus, um die notwendigen Informationen bereitzustellen, die Menschen brauchen, um ihre Wahlentscheidung zu treffen. Deshalb kann auch eine stückweise Einschränkung der Pressefreiheit ein Alarmzeichen für den Niedergang der Demokratie sein.

So ist es wenig überraschend, dass es gerade autokratisch regierte Staaten sind, die Journalist:innen ins Gefängnis stecken. Myanmar ist mit mindestens 68 Inhaftierten auch hier weit vorne mit dabei, in China sind es sogar über 100. Auch in Belarus, im Iran, in Russland, Saudi-Arabien, Syrien und Vietnam sind jeweils über 20 Journalist:innen wegen ihrer Arbeit inhaftiert. Die Zahlen von Reporter ohne Grenzen zeigen natürlich nur die bekannten Fälle auf, die Dunkelziffer könnte noch deutlich höher liegen.

Gerade in Krisensituationen sind es jedoch auch immer wieder demokratische Staaten, in denen die Pressefreiheit stark bedroht wird. Während der Corona-Zeit drückte beispielsweise die ungarische Regierung von Viktor Orbán ein Gesetz durch, infolgedessen bis zu fünf Jahre Haft für “falsche” Berichterstattung, die den “erfolgreichen Schutz” der Öffentlichkeit gefährden, drohen.

Auch in Deutschland hatte sich die Situation während der Corona-Pandemie verschlechtert. Hier waren es jedoch vor allem die Attacken und Übergriffe auf Demonstrationen, oft solchen gegen die Corona-Maßnahmen, die die Lage für die Pressefreiheit verschärften. Im letzten Jahr kamen dann auch vermehrt Übergriffe auf sogenannten “palästinasolidarischen” Demos hinzu.

Doch die Angriffe auf die Pressefreiheit sind nicht immer so spektakulär-schockierend wie die physische Gewalt am Rande von extremistischen Demonstrationen. Besonders beliebt sind dabei Angriffe auf juristischem Weg.

Die Rechercheplattform Correctiv hat das erfahren müssen, nachdem sie Anfang des Jahres ein rechtsextremes Geheimtreffen in Potsdam aufgedeckt hatte. In der Folge war Correctiv nicht nur massiven Anfeindungen ausgesetzt, sondern es wurde auch immer wieder versucht, die Berichterstattung vor Gericht mundtot zu machen. Die Versuche, Correctiv zu canceln, waren nicht erfolgreich (wenig überraschend – erst kürzlich gab selbst der Rechtsextremist Martin Sellner zu, dass Correctiv tatsächlich die ganze Zeit Recht hatte). Sie mussten letztlich nur einen unbedeutenden Nebensatz löschen, der mit dem Kern ihrer Recherche nichts zu tun hatte.

Doch diese Masche des juristischen Vorgehens gegen unbequeme Berichterstattung hat Methode. Man nennt sie auch SLAPP-Klage und sie wird tatsächlich von Feinden der Pressefreiheit gern genutzt. Eine SLAPP-Klage ist eine Klage gegen einen journalistischen Beitrag oder einen Teil davon, die allerdings gar nicht mit der Absicht gestellt wird, vor Gericht zu gewinnen. Tatsächlich ist SLAPP-Kläger:innen in der Regel bewusst, dass ihre Klagen keine oder nur geringe Chancen darauf haben, sich tatsächlich vor Gericht durchzusetzen.

Aber warum nutzen sie dann überhaupt diese Methode der Klage? Das Perfide dabei ist, dass die Klage ihren Zweck in der Regel schon vor dem Gerichtsurteil erfüllt. Denn ja, eine große Rechercheplattform mit der Reichweite und den finanziellen Mitteln von Correctiv oder Volksverpetzer kann es sich leisten, einen Anwalt zu bezahlen, der sie gegen diese Klagen verteidigt. Doch gerade kleinere, unabhängige Plattformen oder freie Journalist:innen haben oftmals weder die finanziellen Möglichkeiten, noch die Zeit, sich eingehend mit der Klage zu beschäftigen.

Und so ziehen sie in der scheinbar aussichtslosen Situation dann lieber ihren Bericht zurück, als dass sie sich auf das Risiko eines juristischen Streits einlassen, der im Zweifel ihre finanziellen Mittel aufbraucht, Karrieren zerstört oder sogar die mentale Gesundheit beeinträchtigen kann. Auch wenn die SLAPP-Klage also nie eine Chance auf juristischen Erfolg hatte, hat sie dann in der Praxis ihre Wirkung entfaltet.

Natürlich ist nicht die Demokratie am Ende, weil Correctiv einen Halbsatz löschen muss oder weil ein Einbürgerungsantrag von den Behörden verschleppt wird und die Person nicht an den Kommunalwahlen teilnehmen kann. Doch wir müssen verstehen, dass es eben nicht immer die großen, revolutionären Ereignisse sind, die ein politisches System stürzen. Gerade für die Demokratie sind es diese tausenden, oft banal wirkenden Nadelstiche, die sie in Gefahr bringen.

Die scheinbare Banalität dieser Entwicklungen könnte dabei sogar zur größten Bedrohung werden. Denn klar würden wir es alle hassen, wenn es gar keinen freien, unabhängigen Journalismus mehr gäbe. Doch wenn jede Woche unbemerkt ein freies Radio stirbt, eine unabhängige Lokalzeitung aufgekauft wird und eine freie Journalistin frustriert ihren Beruf aufgibt, dann kommt über die Jahre ein enormer Rückgang an Pressevielfalt zusammen.

Wir schreiben diesen Artikel, um Augen zu öffnen. Wir wollen zu Wachsamkeit aufrufen. Hört auf diejenigen, die am stärksten gefährdet sind. Auch wenn es vielleicht unbequem ist, ihnen zuzuhören: Sie könnten eine Entwicklung bereits spüren, die ihr erst in 30 Jahren im Geschichtsbuch versteht.

“Democracy dies in Darkness” ist der offizielle Slogan der US-amerikanischen Zeitung Washington Post. Ein starker Spruch. Doch selbst die Washington Post schaffte es zuletzt nicht mehr, ein klares Bekenntnis gegen den anti-Demokraten Donald Trump zu veröffentlichen. Erstmals seit über 30 Jahren unterlässt die Washington Post eine Wahlempfehlung – wohl auch auf Druck des Besitzers und Multi-Milliardärs Jeff Bezos, um sich mit Trump gut zu stellen. Die Post wollte Harris empfehlen. In den Tagen darauf kündigten Hunderttausende ihr Abo, mehrere Journalist:innen der Post kündigten ebenfalls.

Das Beispiel zeigt, dass wir immer eine Chance haben, uns gegen die scheinbare Übermacht von autoritären Politiker:innen und ihren superreichen Verbündeten, die freie Berichterstattung blockieren wollen, zu wehren. Doch wir müssen erkennen, dass der Zeitpunkt dafür jetzt ist. Nicht “Was hättest du 1933 getan?” ist relevant. Sondern “Was tust du heute?”.

Artikelbild: Robert Michael/dpa; Auf dem Bild: Die Abgeordneten von BSW um Sabine Zimmermann (r), Co-Vorsitzende des BSW Sachsen, Jörg Scheibe (l), Co-Vorsitzender des BSW in Sachsen, und die Fraktion der AfD stimmen während der Sitzung des Sächsischen Landtages gemeinsam für die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschsses zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie.

 

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