Während die Medien von knappen und oft unzuverlässigen Umfragen sowie hitzigen Wettkämpfen zwischen Trump und Harris berichten, übersehen sie wichtige Themen, die den Wahlausgang entscheidend beeinflussen könnten. Was die Medien in diesem Wahlkampf übersehen haben – von gesellschaftlichen Fragen wie dem Gender Gap und den drakonischen Abtreibungsrechten bis hin zu alarmierenden Warnungen vor möglicher Gewalt nach der US-Wahl. Welche verborgenen Faktoren wirklich zählen und warum diese oft übersehenen Aspekte entscheidend sein könnten, erklärt Annika Brockschmidt.
Es ist so weit: Der letzte Wahltag in den USA. Die Unsicherheit ist groß – gerade auch, was Umfragewerte betrifft. Das Rennen sei unheimlich knapp, sagt die Mehrheit der seriösen Umfrageinstitute, und diese Umfragen scheinen auch den medialen Diskurs zu dominieren. Trump ein Prozentpunkt vor Harris, Harris ein Prozentpunkt vor Trump – dabei sind Umfragen kein gutes Analysewerkzeug, weil sie keine präzisen Instrumente sind. Die Fehlermarge bei Umfragen beträgt normalerweise um die drei Prozent. Sprich: Alle Umfragen, die sich in einem Spektrum von drei Prozent bewegen, wären immer noch richtig gewesen, sollte am Ende der oder die andere Kandidat*in als vorhergesagt gewinnen.
Wie kann es aber sein, dass das Rennen so knapp ist? Medien leben natürlich auch von der Atemlosigkeit eines engen Wahlkampfs – der ist spannender als wenn Sieg und Niederlage eindeutig voraussehbar scheinen. Das bedeutet wiederum, dass solchen Umfragen besonderes Gewicht zugeschrieben wird.
Gleichzeitig haben die Pollster, also die Meinungsforscher, besonders große Panik – das erklärte zumindest der New York Times Chef-Pollster Nate Cohn – sich wieder zu irren, und wie 2016 und 2020 Trump massiv zu unterschätzen. 2016 sah keine Umfrage Clintons Niederlage voraus, und auch 2020 sahen sie Biden deutlich weiter vor Trump, als er es am Ende war. Über die möglichen Gründe dafür wird diskutiert, noch ist unklar, woran es genau gelegen hat. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass Pollster jetzt ihre Ergebnisse „überkorrigieren“, und die Antworten zu sehr für Trump gewichten.
Es gibt eine Ausreißerin, deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass es unter Umständen doch nicht so knapp werden könnte: J. Ann Selzer, eine hoch respektierte und sehr verlässliche Pollsterin, die gerade die Medienlandschaft erschütterte, weil sie vorher sagte, dass Harris Iowa gewinnen würde. Iowa wird nicht als Swing State gesehen – der letzte Demokrat, der den Bundesstaat gewann, war Obama 2012.
Warum sieht Selzer also jetzt Harris ausgerechnet dort so deutlich vorn? Nun, im Juli ist in Iowa ein extrem unbeliebtes Abtreibungsverbot nach der sechsten Wochen in Kraft getreten, auch dank des Iowa Supreme Courts. Wenn Ann Selzer Recht behält – selbst, wenn Harris Iowa nicht gewinnt, aber dort zumindest deutlich zulegt – erzählt das auch noch eine ganz andere Geschichte über diese US-Wahl.
Und das ist das Problem des starken Fokus auf wenig aussagekräftige Umfragewerte. Kritiker*innen dieser Form der politischen Berichterstattung in den USA sprechen von “Horse Race”-Journalismus, also eine Berichterstattung, die nur darauf ausgerichtet ist, wer gerade die Nase vorn hat. Wer sich darauf fokussiert, übersieht allzu leicht die eigentlichen, entscheidenden Themen dieser Wahl.
Während es beispielsweise viel Berichterstattung zu einer vermeintlichen neuen Mischung der Wählerschaft der beiden Parteien gibt, weil Trump unter Latinos und Schwarzen Wähler*innen angeblich zulegen konnte, übersieht diese die eigentliche Linie, an der sich die US-Wahl zu entscheiden scheint: Gender.
Trump hat, wenn man den Umfragen Glauben schenken mag, nämlich vor allem unter Schwarzen Männern zugelegt und unter Latino Männern. Und einige der zweiten Gruppe im wichtigen Swing State Pennsylvania scheinen sich die rassistischen Beleidigungen von Puerto-Ricanern auf Trumps Madison Square Garden rally zu Herzen genommen haben, auch wenn manch ein deutscher Kommentator dies als Geniestreich pries und davon sprach, dass Trump „exzellente politische Kommunikation“ betreibe, als er sich als Müllmann verkleidete.
Trump wollte damit auf einen Patzer Bidens hinweisen – doch bei einigen Latinos scheint es so zu wirken, als würde er auf dem rassistischen Witz eines „Comedians“, Puerto Rico sei eine „Insel Müll“, beharren. Der Fokus auf PR-Stunts, von denen unklar ist, wie sie jenseits des Medien-Ökosystems ankommen, und auf Umfragen, die wenig aussagekräftig sind, die innerhalb der Fehlermarge liegen, übersieht man die deutlichen Anzeichen dafür, dass Abtreibung ein wahlentscheidendes Thema sein könnte.
Ein zweites Thema, das bisher in der Medienberichterstattung zur US-Wahl völlig unterrepräsentiert ist, ist das Gewaltpotential der unterschiedlichen Szenarien. Vor dem 6. Januar 2021 wurden solche Warnungen lange als alarmistisch abgetan, und auch heute noch scheinen sich große Teile der Medienlandschaft nicht für diese Frage zu interessieren.
Einer, der seit Jahren davor warnt, der auch unmittelbar vor dem 6. Januar Alarm geschlagen hatte, ist der Journalist David Neiwert. Er forscht und berichtet seit Jahrzehnten über Rechtsextremismus und ist einer der führenden US-Experten, was die Einschätzung des Gewaltpotentials der Szene angeht. Ich habe ihm ein paar Fragen zu den möglichen Szenarien und zum Medienverhalten gestellt:
Müssen wir mit Gewalttaten rechnen, falls Trump verliert – und wenn ja, gegen wen wird sie sich richten?
Neiwert: Die Gewalt nach den Wahlen, falls es dazu kommt, wird sich wahrscheinlich gegen eine Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund richten, aber sie alle werden [von Trumps Unterstützern, Anm. d. Red.] so wahrgenommen werden, als hätten sie eine Rolle bei der Wahlniederlage gespielt. Wahlbeamte in den einzelnen Bezirken und Bundesstaaten, Medien und ihre Reporter, Funktionäre und gewählte Vertreter der Demokratischen Partei und eigentlich jeder, den die organisierten selbst ernannten Vergeltungstrupps sowie etwaige Einzeltäter als Verursacher von Trumps Niederlage ansehen könnten.
Das kann von Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu einfachen Nachbarn reichen. Erinnern Sie sich an den Sheriff in Ohio, der seine Wähler aufforderte, Leute mit Harris/Walz-Werbeschildern aufzuspüren, damit man sie nach der Wahl aufsuchen kann? Das ist die Dynamik, die wir im Auge behalten müssen.
Betrachten wir ein zweites Szenario: Was passiert, wenn Trump gewinnt?
Neiwert: Wenn Trump gewinnt, wird staatlich ausgeübte Gewalt innerhalb kürzester Zeit beginnen, wenn sie ihren „Massendeportationsplan“ in die Tat umsetzen, denn das werden keine friedlichen Razzien sein; die Menschen werden sich wehren, vielleicht sogar gewaltsam. Aber das wäre nur der Anfang.
Trumps bewaffnete neo-faschistische Straßenschläger-Trupps wie die Proud Boys und die III-Prozent-Miliz werden ebenfalls in Aktion treten und den Behörden zunächst dabei helfen, mutmaßliche „Illegale“ zu identifizieren und zu verhaften (von denen viele in Wirklichkeit amerikanische Staatsbürger sein werden). Aber eine viel größere Rolle werden diese Gruppen bei der Unterdrückung und gewaltsamen Bekämpfung jeglicher Art von Protesten spielen, die es sicherlich geben wird. Und sie werden aktiv bewaffnete Einschüchterung einsetzen, um jede Art von Dissens zu unterdrücken.
Bis auf einige wenige Ausnahmen scheint die mediale Berichterstattung diese Szenarien kaum zu beachten. Woran liegt es, dass solche Szenarien nicht stärker im Fokus der Journalist*innen etablierter Medienhäuser liegen?
Neiwert: Ich denke, die Medien in Amerika haben es völlig versäumt, sich damit angemessen auseinanderzusetzen, weil sie alle im Besitz plutokratischer Konzerne sind, die darauf angewiesen sind, den Eindruck einer ungebrochenen Normalität in der Politik zu vermitteln, nur um die Dinge unter Kontrolle zu halten. Wie uns die Geschichte zeigt, glauben diese Plutokraten, dass sie die faschistischen Elemente unter Kontrolle halten können, bis sie es nicht mehr können (siehe 6. Januar). Und dann arbeiten sie fieberhaft daran, so zu tun, als sei das alles nicht wirklich passiert oder als würden wir anderen nur überreagieren. Dieses Muster hat sich in den letzten zehn Jahren deutlich herausgebildet.
Kurz gesagt: Die wichtigen, entscheidenden Aspekte diese Präsidentschaftswahl gehen im medialen Zirkus über wenig aussagekräftige Umfragen weitgehend unter (einige Ausnahmen gibt es immer). Während reale Gefahren wie Gewaltpotential und die Relevanz des Dobbs-Urteils von 2022 und der daraus resultierenden drakonischen Abtreibungsverbote, sowie ein sich weitender Gender-Gap bei der Berichterstattung zur US-Wahl in den Hintergrund geraten – dabei müssten etablierte Medien ihre erheblichen Ressourcen und ihren Fokus genau darauf richten.
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