Klage vor IGH geplant: Hoffnung für afghanische Frauen

Autorin: Hanna Welte. Dieser Artikel erschien zuerst bei Verfassungsblog. Überschriften ergänzt durch Volksverpetzer

Seit 2021 haben die Taliban über 80 Dekrete erlassen, um Frauenrechte in Afghanistan schrittweise einzuschränken. Diese Dekrete schließen Frauen unter anderem von der weiterführenden Bildung aus, beschränken massiv ihren Zugang zur Justiz und heben ihr Recht, sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen, weitestgehend auf. Im August 2024 erließen die Taliban außerdem das erste Laster- und Tugendgesetzespaket, das weitere Rechte einschränkt. So gilt nunmehr auch die Stimme der Frau als intim, sodass diese nicht mehr in der Öffentlichkeit zu hören sein darf.

Australien, Deutschland, Kanada und die Niederlande streben nun eine Klage gegen Afghanistan vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) an – wegen Verletzungen der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). 22 weitere Staaten unterstützen diese Initiative. Der folgende Beitrag skizziert die Voraussetzungen für eine derartige Klage und zeigt, dass das Verfahren – unabhängig von seinem Ausgang – internationale Solidarität signalisiert und politischen Druck auf Drittstaaten ausübt.

Damit eine Klage vor dem IGH zulässig ist, muss der IGH für die Streitigkeit zuständig sein. Die Zuständigkeit des IGH ergibt sich hier aus der kompromissarischen Klausel in Art. 29 CEDAW, die eine Zuständigkeit des IGH i.S.d. Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 des IGH-Statuts begründet und dazu führt, dass alle Vertragsstaaten Verletzungen der CEDAW geltend machen können (sog. erga omnes partes-Verpflichtungen). Art. 29 CEDAW wurde bislang noch nicht genutzt, das angestrebte Verfahren wäre damit das erste dieser Art.

Voraussetzung ist jedoch, dass die Parteien zunächst versuchen, sich in einem sechsmonatigen Schiedsgerichtsverfahren zu einigen. Gelingt dies nicht, können die Parteien die Streitigkeit anschließend an den IGH übertragen. Australien, Deutschland, Kanada und die Niederlande können also nicht sofort Klage beim IGH erheben, sondern erst, nachdem die Frist für das Schiedsverfahren abgelaufen ist. Sollte die Taliban-Regierung den geltend gemachten Vertragsverletzungen nicht in angemessener Zeit abhelfen (was unwahrscheinlich ist), streben die vier Staaten ein solches Schiedsverfahren an.

Damit würde sich das Verfahren in eine Reihe von IGH-Verfahren auf Grundlage kompromissarischer Klauseln einfügen. Zu nennen sind etwa die Verfahren Gambia v. Myanmar und Südafrika v. Israel nach Art. IX der Genozid-Konvention oder das Verfahren Kanada und das Königreich der Niederlande v. Syrien nach Art. 30 der Antifolter-Konvention. All diesen Verfahren liegt – wie auch dem gegen Afghanistan angestrebten – eine strategische Prozessführung zugrunde; sie beziehen sich also auf Fälle von öffentlichem Interesse und wollen gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen, die über einen Einzelfall hinausgehen.

Nach Art. 35 des IGH-Statuts können nur Staaten Streitparteien sein. Zwar haben in Afghanistan 2021 die Taliban gewaltsam die Macht übernommen und das politische System radikal verändert. Wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der Kontinuität behält ein Staat aber grundsätzlich seine Völkerrechtssubjektivität unabhängig von (auch extremen) politischen, territorialen oder bevölkerungsbezogenen Veränderungen und geht nicht als Staat unter. Afghanistan hat seine Staatsqualität deshalb nicht verloren und kann deshalb weiterhin vor dem IGH verklagt werden.

Ob Afghanistan völkerrechtswidrig gehandelt hat, richtet sich nach den Draft articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts (DARS). Diese sind kein rechtsverbindlicher völkerrechtlicher Vertrag, sondern wurden lediglich durch die International Law Commission erarbeitet. Mittlerweile ist jedoch anerkannt, dass sie zumindest in Teilen bindendes Völkergewohnheitsrecht wiedergeben (siehe für Art. 4 und 8 IGH, Bosnien und Herzegowina vs. Serbien und Montenegro, Rn. 385).

Nach Art. 2 der DARS ist für ein völkerrechtliches Delikt verlangt, dass ein Staat zurechenbar (lit. a) eine völkerrechtliche Verpflichtung verletzt hat (lit. b). Mit der vorbehaltlosen Ratifikation der CEDAW im Jahr 2003 hat sich Afghanistan umfassend an die darin festgelegten Pflichten gebunden. Der Regierungswechsel durch die Taliban im Jahr 2021 ändert nichts an dieser Bindung. Denn ein Staat besteht trotz eines Regierungswechsels gleich welcher Art fort und bleibt damit auch an alle bis dahin geschlossenen völkerrechtlichen Verträge gebunden.

In den letzten drei Jahren haben die Taliban Verpflichtungen aus der CEDAW jedoch vielfach verletzt. Die Regelungen der CEDAW legen den Staaten zwar keine Pflicht auf, tatsächliche Gleichberechtigung herzustellen (obligation of result), die Staaten müssen jedoch geeignete Maßnahmen zur Gleichberechtigung treffen (obligation of conduct) (vgl. zu Art. 12 Cook/ Undurraga, in: Freeman/Chinkin/Rudolf (Hrsg.), CEDAW Commentary, S. 327 f.). Durch Dekrete und zuletzt das Laster- und Tugendgesetzespaket schränkte die Regierung die Frauenrechte allerdings massiv ein und verletzt damit insbesondere die allgemeine Pflicht aus Art. 2 CEDAW, durch gesetzgeberische und andere Maßnahmen Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Die Maßnahmen verletzten zudem spezifische Vorschriften: Der Ausschluss von Frauen von der weiterführenden Bildung verstößt gegen Art. 10 CEDAW, der gleiche Bildungszugänge vorschreibt; der Ausschluss vom Arbeitsmarkt verletzt die Gewährung gleicher Beschäftigungschancen gemäß Art. 11; der Ausschluss von Gesundheitsdiensten steht im Widerspruch zu Art. 12 CEDAW, der Gleichberechtigung im Gesundheitswesen fordert.

Diese völkerrechtlichen Pflichtverletzungen sind Afghanistan auch nach Art. 4 DARS als Verhalten staatlicher Organe zuzurechnen. Dabei ist unerheblich, dass die Taliban-Regierung 2021 die Macht gewaltsam übernommen und die gewählte Regierung entmachtet hat, die sich seitdem zumindest in Teilen – so z.B. der gewählte Präsident Ashraf Ghani – im Exil befindet. Durch die gewaltsame Machtübernahme haben die Taliban die Kontrolle über die Bevölkerung und das Territorium erlangt und so effektiv die Staatsgewalt übernommen. Dass dies illegitim erfolgte und bis dato kein Staat die Taliban-Regierung anerkennt, ist im Völkerrecht irrelevant.

Nach dem völkerrechtlichen Effektivitätsgrundsatz sollen stabile Verhältnisse gesichert werden, das Völkerrecht ist deshalb in gewisser Weise „blind“ für die Legitimität der Machtergreifung und die Anerkennung durch andere Staaten. Dies hat zuletzt – wenn auch nicht ausdrücklich – die Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in ihren Ausführungen zur Situation in Afghanistan bestätigt (Rn. 14 ff.). De-facto-Regierungen werden de-iure-Regierungen völkerrechtlich also gleichgestellt. Deshalb ist das Verhalten der Taliban-Regierung dem Staat Afghanistan über Art. 4 der DARS zurechenbar (vgl. Kommentar zu den DARS, Art. 9 Abs. 4).

Eine Klage der vier Staaten vor dem IGH könnte also Erfolg haben. Aber was bringt ein solches Verfahren?

Grundsätzlich sind Entscheidungen des IGH bindend, Art. 94 Abs. 1 UN-Charta. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich die Taliban an ein Urteil des Gerichtshofs halten werden, denn ihre Herrschaft beruht auf einer fundamentalistischen Auslegung der Scharia, die die systematische Unterdrückung von Frauen vorsieht. Dem IGH fehlt es aber an einem eigenen Mechanismus, um seine Urteile durchzusetzen. Die einzige Durchsetzungsmöglichkeit besteht darin, den UN-Sicherheitsrat anzurufen, der Empfehlungen oder Maßnahmen beschließen kann, Art. 94 Abs. 2 UN-Charta. Hierbei stellt sich jedoch das bekannte Problem, dass der UN-Sicherheitsrat wegen des Vetorechts der fünf ständigen Mitglieder in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein kann. Weil sich Russland und China der Taliban-Regierung diplomatisch annähern, wäre ein Beschluss des UN-Sicherheitsrat deshalb fraglich.

Trotzdem sendet bereits das Verfahren ein internationales Signal, auch an afghanische Frauen: „We see you, we hear you. We speak for you when you are silenced“, wie es das Auswärtige Amt auf X formulierte. Stellt der IGH eine Völkerrechtsverletzung Afghanistans fest, kann dies außerdem den politischen Druck auf andere Staaten erhöhen, die Taliban-Regierung weder anzuerkennen noch mit ihr international zusammenzuarbeiten. Dabei besteht auch nicht die Gefahr, dass die klagenden Staaten mit dem angestrebten Verfahren die Taliban-Regierung anerkennen. Nicht nur haben die vier Staaten deutlich gemacht, dass die Einleitung des Verfahrens gerade keine Form der Anerkennung darstellen soll. Auch haben vergangene Verfahren gegen Staaten, deren Regierung die klagende Partei nicht anerkannte, keine Anerkennungswirkung entfaltet (vgl. USA v. Iran).

Nach alldem zeigt sich, dass die IGH-Klage ein wichtiger erster Schritt ist, um gegen die Unterdrückung der Frauen in Afghanistan durch die Taliban vorzugehen. Das Verfahren entfaltet insbesondere politische Wirkung, sollte jedoch nicht das einzige Mittel bleiben. Es braucht dringend weitere internationale und nationale Maßnahmen, um die systematische Verletzung der international anerkannten Frauenrechte durch das Taliban-Regime umfassend aufzuarbeiten.

In Betracht kommen dabei insbesondere Verfahren vor dem IStGH, um Individuen aus der Taliban-Führung für völkerstrafrechtliche Kernverbrechen zu verfolgen. Weil Afghanistan 2003 das Römische Statut ratifizierte, ist der IStGH grundsätzlich zuständig. Das Römische-Statut nimmt vielfach Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung, insbesondere bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 7. Dies geht auch aus der neuen Richtlinie zu geschlechtsspezifischen Straftaten des Office of the Prosecutor des IStGH aus 2023 hervor, die diesem als Orientierung bei der Verfolgung solcher Verbrechen dient und umfassend darstellt, wie die völkerstrafrechtlichen Tatbestände geschlechtsspezifische Verbrechen berücksichtigen.

Zudem können nationale Gerichte nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip auch Verfahren gegen Einzelpersonen durchführen, um Verstöße gegen das Völkerstrafrecht zu ahnden. In der Bekanntmachung der Initiative haben die vier Staaten bereits weitere Maßnahmen angedeutet. Eine derart breit angelegte Strategie wird auch im Ukraine-Russland-Krieg und dem Nahost-Konflikt verfolgt, in denen sowohl Verfahren beim IGH als auch Untersuchungen beim IStGH eingeleitet wurden. Dies weist darauf hin, dass auch gegenüber Afghanistan nicht nur ein völkerrechtliches Instrument verwendet werden sollte, sondern verschiedene internationale und nationale Mechanismen zur Ahndung der Verbrechen gegen die Frauenrechte durch die Taliban-Regierung genutzt werden müssen.

Das Verfahren macht deutlich, dass die internationale Gemeinschaft die Lage afghanischer Frauen nicht ignoriert und bereit ist, gegen ihre Unterdrückung vorzugehen. Es sendet ein Signal, nicht nur an die Taliban, sondern an die gesamte Staatengemeinschaft, dass Frauenrechte verteidigt werden müssen. Für die afghanischen Frauen bedeutet es vor allem eines: Hoffnung auf Gerechtigkeit.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Überschrift und Zwischenüberschriften ergänzt durch Volksverpetzer. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.

Artikelbild: Shutterstock/ Kamil Kaczmarczyk

 

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