Bothsideism: Wir müssen Lügen auch so nennen, um die Demokratie zu retten

Wir kämpfen um den Erhalt unserer Demokratie. Professorin Marlene Wind stellt die Frage, ob wir Lügen und gezielte Manipulation im Namen der Ausgewogenheit tolerieren sollten. Die sogenannte „Bothsideism“-Mentalität verleiht gefährlichen Ideologien Glaubwürdigkeit, während die Grundlagen der Demokratie zunehmend erodieren. Ihr Plädoyer ist, Lügen auch konsequent zu benennen und zu bekämpfen. Sie hat kürzlich das Buch “The Tribalization of Europe – a defense of our liberal values” verfasst.

Autorin: Marlene Wind. Dieser Artikel erschien zuerst bei Verfassungsblog.de auf Englisch. Übersetzt von Volksverpetzer.

Die westlichen Medien sind nicht darauf vorbereitet, mit rechtspopulistischen Akteuren wie Donald Trump, Orbán oder der AfD umzugehen. Zudem schließen sich Verfassungsrechtler, die Demokratie rein prozedural betrachten, dem populistischen Chor an.

Es muss momentan ziemlich bedrückend sein, ukrainischer Soldat zu sein. Stell dir vor, du verbringst dein zweites Jahr in den Schützengräben, während russische Artilleriegranaten um dich herumfliegen, ohne Aussicht darauf, dass das bald endet. Zugegeben, die Ukrainer haben in den letzten Monaten auf dem Schlachtfeld Erfolge erzielt, insbesondere durch Angriffe auf das russische Kursk. Doch der „Winter naht“, und derzeit sieht die Ukraine ihrem dritten Winter mit ständigen Angriffen auf Infrastruktur und zentrale Versorgungsketten entgegen.

Wenn man auf die sogenannte freiheitsliebende westliche Welt blickt, die immer wieder versprochen hat, die Ukrainer zu unterstützen und „alles Notwendige zu tun“, um den russischen Angriff zu bekämpfen, muss die Ernüchterung noch größer sein. Die Waffen und die Munition kommen nicht, und der Westen liefert nicht genug, um den Krieg zu gewinnen.

Betrachten wir zunächst Europa. Die monatelange Regierungskrise in Frankreich und die Niederlage der deutschen Ampelregierung in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und beinahe auch in Brandenburg – was auf das nächste Jahr bei der deutschen Bundestagswahl vorausweist – stellen ernsthaft in Frage, was von Europas Entschlossenheit übrig ist. Vom ohnehin schon angeschlagenen deutsch-französischen Verhältnis ganz zu schweigen.

Und obwohl Ursula von der Leyen hoffentlich die Machtlücke nutzt, um als wirkliche „Oberbefehlshaberin“ der EU aufzutreten, ist die europäische Zusammenarbeit durch Kriegsmüdigkeit, Selbstmitleid und vor allem den Mangel an politischem Willen schwer erschüttert.

Wenn die Ukrainer gehofft hatten, auf die Amerikaner zählen zu können, müssen sie ebenfalls besonders optimistisch sein. Obwohl Kamala Harris in ihrem kurzen Rennen um das Amt der Präsidentin der Vereinigten Staaten gut abgeschnitten hat, prognostizieren Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen und eine 50-prozentige Chance, dass Trump der amerikanischen Demokratie den letzten Nagel in den Sarg schlagen könnte.

Sollte er gewinnen, müssen sich die Ukrainer und wir in Europa auf eine vierjährige Achterbahnfahrt gefasst machen, die – wenn wir sie überleben – alles von Sicherheitsgarantien bis hin zu guten Handelsbeziehungen durcheinanderbringen wird.

Verliert Trump hingegen, wird es ebenfalls nicht leise vonstattengehen, da er und seine engen Verbündeten bereits angekündigt haben, dass die Wahl dann – erneut – gestohlen worden sei. Dies ist einer der Gründe, warum eine steigende Zahl amerikanischer Beobachter befürchtet, dass die Wahl im November die letzte demokratische Wahl in den USA sein könnte.

Immer mehr Kommentatoren und Demokratiestudierende schlagen daher vor, dass wir den „Bothsideism“ aufgeben, den wir im Westen im vergangenen Jahrzehnt aus Eifer gepflegt haben, um den „Populismus zu verstehen“. Laut Webster’s Dictionary bedeutet „Bothsideism“, dass die Mainstream-Medien und Kommentatoren in einem fehlgeleiteten Versuch, Meinungen auszugleichen, Ansichten, Positionen oder Handlungen Glaubwürdigkeit verleihen, die dieselbe Demokratie untergraben, die den Ausdruck der Ansicht erst ermöglicht.

In Deutschland hat sich die Medienlandschaft im Hinblick auf die Berichterstattung über die AfD weitgehend davor gehütet, in die „Bothsideism-Falle“ zu tappen, und eine kritische Haltung gegenüber der extremen Rechten beibehalten. Doch bei der Berichterstattung über die US-Präsidentschaftswahl ist es keinem Medienexperten in den USA oder in Europa wirklich gelungen, die grotesken Lügen, Beleidigungen und Absurditäten, die wir in den letzten Monaten und Jahren erlebt haben, angemessen beim Namen zu nennen. Stattdessen relativieren und verharmlosen Medien und Experten die völlig grotesken Aktionen, Behauptungen und Desinformationen, die Trump (und sein Mitstreiter J.D. Vance) seit Trumps erstem Versuch, Anführer der freien Welt zu werden, verbreiten.

„Bothsideism vergiftet Amerika“, wie Laila Lalami in einem Artikel von 2019 schrieb. Darin beschreibt sie, wie Journalisten aus Angst, als voreingenommen zu gelten, zu „Mitproduzenten“ von Trumps absurden Geschichten werden, etwa der Behauptung, die Wahl 2020 sei gestohlen worden. Sie verharmlosen seine kriminellen Handlungen oder spielen indirekt mit der Vorstellung, dass die von Trump am 6. Januar 2021 orchestrierte Gewalt kein „echter“ Putsch war, sondern lediglich eine Gruppe von etwas verwirrten Menschen, die ein Picknick im Kongress veranstalteten.

Die Warnung vor dem „Bothsideism“ besteht darin, dass Medien und Kommentatoren – obwohl sie das Problem kennen – unwissentlich zur Desinformation und zur Legitimierung von Lügen beitragen. Man sollte zwar immer offen für die Ansichten seines Gegners sein, aber dies schließt – hoffentlich – keine Lügen, Manipulationen und Bedrohungen der Demokratie ein. Dennoch sind westliche Demokratien und ihre Analysten notorisch schlecht gerüstet, um mit der Transformation der Politik umzugehen, die heutige Populisten repräsentieren.

Die Berichterstattung der letzten Jahre über Viktor Orbáns Zerstörung der Demokratie in Ungarn ist ein Beweis dafür. In der Ära des Populismus, in der die „Elite“ als „Feind des Volkes“ dargestellt wird, sind kritische Stimmen nicht willkommen, wenn es darum geht, einen Mann zu kritisieren, der viermal in Folge die nationale Wahl gewonnen hat. Auch dann nicht, wenn bekannt ist, dass er seinen ersten Wahlsieg nutzte, um sich durch Gerrymandering, die Besetzung von Gerichten und Medien und die schrittweise Demontage der „echten“ Demokratie und des Rechtsstaates für die nächste Wahl vorzubereiten.

Wahlen und Abstimmungen allein reichen nicht aus, um eine Demokratie zu schaffen, auch wenn die sogenannte behavioristische Schule der Politikwissenschaft oft davon ausgeht. Tatsächlich hat der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein bereits in den 1930er Jahren darauf hingewiesen, dass die Definition der Demokratie nur durch Wahlen und Mehrheitsbildungen die wahre Demokratie auf das reduziert, was er als „demokratischen Fundamentalismus“ bezeichnete. Heute ist diese Sichtweise so weit verbreitet, dass es fast unmöglich ist, gegen den Populismus anzukämpfen.

„Bothsideism“ hat tatsächlich viel mit Loewensteins Idee des „demokratischen Fundamentalismus“ gemeinsam, steht aber in scharfem Kontrast zu seinem ebenso berühmten Begriff der „wehrhaften Demokratie“. Loewenstein argumentierte, dass angesichts des Aufstiegs faschistischer und kommunistischer Bewegungen und Parteien in den 1930er Jahren außergewöhnliche Maßnahmen notwendig sein könnten, um nicht nur den formalen Teil der Demokratie, sondern ihre Kernwerte zu schützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung von sechs Millionen Juden und anderen Minderheiten wurde die Ansicht, dass die Demokratie eine Substanz hat, die geschützt werden muss, besonders in Deutschland wichtig und verbreitete sich mit der Idee des Konstitutionalismus, der gerichtlichen Überprüfung und starker Gerichte zur Verteidigung dieser Werte in den meisten Teilen Europas.

In unserem gegenwärtigen Zeitalter des Populismus haben wir diese wichtigen Punkte jedoch übersehen und sagen uns immer wieder, dass jede Stimme gleichwertig ist – auch wenn sie auf Lügen und Desinformation beruht. Es ist nur ein weiterer „Standpunkt“. Was der Populismus untergraben hat, ist daher das Recht, aber auch der Mut, diejenigen beim Namen zu nennen, die bewusst Lügen verbreiten, und auch diejenigen, die demokratische Institutionen nutzen, um die Demokratie zu zerstören. Zudem ist der Populismus so mächtig, dass viele seiner Merkmale derzeit in die Rechtstheorie eindringen.

Hier haben Theoretiker begonnen, nicht nur die wehrhafte Demokratie, sondern auch den Konstitutionalismus in Frage zu stellen – sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene und bezeichnen den Konstitutionalismus als „Ideologie“ und sogar als „Opium für Juristen“, um Professor Martin Loughlin zu zitieren. In seinem Buch „Against Constitutionalism“ schlägt er eine Rückkehr zu einer Welt vor, in der die politischen Verfahren der Abstimmung und Mehrheitsbildung die wahre Demokratie ausmachen.

Der dänische Rechtsphilosoph Alf Ross (1899-1979), der das gesamte juristische und politische Denken in Skandinavien im vergangenen Jahrhundert beeinflusste, vertrat die gleiche Auffassung von Demokratie, die an sich keinen Kern oder keine Substanz besitzt. Seiner Ansicht nach ist die Willensbildung im Parlament das Wesen der Demokratie und sollte unabhängig vom Ergebnis respektiert werden.

Aus diesem Grund haben Dänen nie verstanden, wie Deutsche, die eine weitaus substanzielle und wertbasierte Auffassung von Demokratie haben, sich weigern würden, rechtsextreme Populisten in die Regierungsämter zu lassen, wenn das „Volk es will“. Dies kommt Loewensteins „demokratischem Fundamentalismus“ nahe, und obwohl einige dies als demokratisch ansehen mögen, würde es letztlich bedeuten, dass wir Holocaustleugnern eine gleichwertige Plattform geben. Oder den „Putin-Verstehern“, die derzeit mit Putins Lügen von einem „Frieden” in der Ukraine reisen, während Granaten Schulen und Infrastruktur zerstören.

In der Berichterstattung über die amerikanischen Wahlen genießen Wahlleugner ebenso wie diejenigen, die sagen, dass es am 6. Januar keinen echten Putsch gegeben habe, bereits freien Spielraum, da „Bothsideism“ diktiert, dass dies lediglich „Ansichten“ sind – wie alle anderen.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat kürzlich sehr deutlich gemacht, dass die Situation untragbar ist und dass wir die Medien und Experten zur Rechenschaft ziehen müssen, die dazu beitragen, nichtdemokratische Akteure zu verharmlosen und somit zu legitimieren, die vom populistischen „Bothsideism“ profitieren.

Wir sind weit darüber hinaus, alle „Ansichten“ gleichwertig zu behandeln, wenn wir die Demokratie retten wollen. Macht uns das dann zu Aktivisten anstelle von Wissenschaftlern? Aktivisten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Hoffentlich ja. Ich frage mich, ob der ukrainische Soldat, der für die Freiheit in den Schützengräben kämpft, das nicht ebenso sehen würde.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.deCC BY-SA 4.0. Einleitung und Überschriften teilweise ergänzt durch Volksverpetzer. Übersetzung mit Genehmigung der Autorin. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Artikelbild:

Artikelbild: kovop

 

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