Abschiebungen sind moralisch oft verwerflich und reißen Familien, Paare, Freund:innen auseinander, kurz gesagt: sie zerstören Menschenleben. Von dieser moralischen Perspektive abgekoppelt, stellten sich die Expert:innen von Verfassungsblog die Frage, wie es aus juristischer Perspektive zu Abschiebungen kommen kann und wie nicht. Dabei sind vier zentrale Aspekte zu berücksichtigen.
Autor: Daniel Thym. Dieser Artikel erschien zuerst bei Verfassungsblog.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich dafür ausgesprochen, Schwerstkriminelle und Gefährder auch nach Afghanistan und Syrien abzuschieben. Die öffentliche Debatte unterstellt dabei bisweilen, dass der Kanzler, die Innenministerin oder das Außenministerium eigenständig darüber entscheiden könnten, ob ein Land als generell sicher oder unsicher gilt. Je nach Ergebnis erhalten dann entweder alle Schutz oder Abschiebungen sind plötzlich möglich. Das stimmt nicht, denn das Asylrecht fragt nach Situation jeder Einzelperson. Statt eines „Alles oder nichts“ gilt also „Es kommt darauf an“. Das klingt unentschieden, ist es jedoch nicht. Man muss sich nur bewusst machen, anhand welcher Leitlinien die Behörden und Gerichte darüber entscheiden, ob Abschiebungen rechtmäßig sind, und welche Rolle die Politik spielt. Dabei sind vier Fragen zu unterscheiden.
Die Politik würde sich die Zähne ausbeißen, wenn sie versuchte, Personen nach Afghanistan oder Syrien abzuschieben, die einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus nach dem Grundgesetz oder der Genfer Flüchtlingskonvention besitzen. Diesen Schutzstatus bekommen alle Menschen, die im Herkunftsland aus politischen, religiösen oder sonstigen Gründen verfolgt werden. Das gilt zum Beispiel für Frauen, die von den Taliban drangsaliert werden, Richter, die sich für die Menschenrechte einsetzten, oder klassische Oppositionelle. Bei Verfolgung besteht ein absolutes Abschiebungsverbot selbst dann, wenn jemand schwerste Straftaten begeht.
Bereits vor 27 Jahren wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Versuch der britischen Regierung zurück, einen vermeintlichen Terroristen nach Indien abzuschieben. Der Schutz vor Folter und erniedrigender und unmenschlicher Behandlung nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist „absolut, unabhängig vom Verhalten des Opfers und der Art der vom Kläger angeblich begangenen Straftat“ (hier, Rn. 127). Etwas anderes gilt nur, wenn der Zielstaat belastbare diplomatische Zusicherungen vorlegt, keine Folter oder Todesstrafe anzuwenden. Im Fall der Taliban und des Assad-Regimes scheidet das wohl aus. Das Ergebnis ist scheinbar paradox: Terroristen und schwerste Straftäter können in der Praxis schwieriger abgeschoben werden, weil ihnen häufig Folter oder schlimme Haftbedingungen drohen.
Einen Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus bekommen gemäß der aktuellen BAMF-Entscheidungspraxis ungefähr die Hälfte aller Afghanen und ein Zehntel aller Syrer. In diesen Fällen wäre eine Abschiebung auch bei schwersten Straftaten rechtswidrig. Alle anderen Asylanträge aus den beiden Ländern wurden gleichwohl nicht abgelehnt. Stattdessen bekommen die meisten Syrer „subsidiären Schutz“, während viele Afghanen von einem „Abschiebungsverbot“ profitieren. Beides darf man nicht mit einer „Duldung“ verwechseln, die erhält, wer die Bundesrepublik verlassen muss. Ein subsidiärer Schutz und Abschiebungsverbote sind erweiterte Schutztitel, die eine reguläre Aufenthaltserlaubnis mit vielen Rechten bedeuten.
Auch ein subsidiärer Schutz sowie Abschiebungsverbote schützen juristisch 100 % vor einer Abschiebung. Dennoch hat die Politik einen gewissen Spielraum. Wenn sich die Situation vor Ort verändert, schlägt dies früher oder später auf die Asylpraxis durch. Das gilt zum Beispiel für Syrien.
Ob es uns gefällt oder nicht: Das Assad-Regime kontrolliert weite Teile des Landes –anders als vor acht Jahren, als die „Schlacht um Aleppo“ tobte und der Islamische Staat wütete. Aufgrund der geänderten Verhältnisse schlussfolgert die EU-Asylagentur in ihrem Bericht vom April 2024, dass vor allem im Zentrum von Syrien und an der Mittelmeerküste das Gewaltniveau nicht mehr hoch genug ist, dass automatisch alle subsidiären Schutz bekommen sollten. Die deutsche Asylpraxis ignoriert dies bisher.
Bei Afghanistan wurde diese regionale Differenzierung jahrelang praktiziert. Inzwischen bekommen kaum noch Afghanen subsidiären Schutz, denn die Kämpfe endeten mit dem Sieg der Taliban beinahe überall. Dass dennoch so viele Asylanträge erfolgreich sind, liegt daran, dass deutsche Gerichte europäische Urteile großzügig handhaben. Der EGMR hält bis heute daran fest, dass für Abschiebungen in Drittstaaten die „Paposhvili-Formel“ gilt, wonach nur schwerstes Leiden eine Abschiebung verbietet.
Ein weitergehendes Abschiebungsverbot bei extremer Armut gilt während des Asylverfahrens und nach einer Anerkennung bei Personen, die in andere EU-Staaten überstellt werden, nicht jedoch für Menschen, deren Asylverfahren keinen Schutzgrund feststellte (hier, S. 23-27; und hier, S. 351-353).
Es ist verständlich, dass die Politik den Lageberichten des Auswärtigen Amtes große Bedeutung beimisst. Schließlich handelt es sich um eine offizielle Einschätzung der deutschen Diplomatie. Juristisch sind diese freilich nur begrenzt aussagekräftig. So werden keine Quellen genannt, die Berichte sind relativ kurz und beschreiben die Menschenrechtslage allgemein. Der geleakte Bericht zu Afghanistan von 2023 erwähnt die Wirtschaftslage nur am Anfang und schweigt zur Lebenssituation für verschiedene Personengruppen in den Regionen. Der Bericht taugt damit nicht als Leitlinie zur Antwort auf die Frage, ob Personen, denen keine Verfolgung droht, ein Abschiebungsverbot wegen schwerster Leiden zusteht.
Die EU-Asylagentur ist ausführlicher (hier, S. 16 f., 100 f. mit weiteren Nachweisen). Allerdings konzentriert sich deren Bericht auf den subsidiären Schutz. Das liegt daran, dass Abschiebungsverbote aufgrund der schlechten Wirtschaftslage nur ausnahmsweise vom EU-Recht erfasst sind. Diese richten sich nach der EMRK und, hieran anschließend, deutschem Recht. Ein Urteil des VGH Greifswald von 2023 zeigt, wie gründlich – und differenzierend – diese Prüfung ausfallen kann. Das Fazit lautet: junge afghanische Männer, denen keine Verfolgung droht, sollten nicht gleichsam automatisch ein Abschiebungsverbot wegen Armut erhalten.
Ausführlicher als über die Armut berichtet die EU-Asylagentur über den subsidiären Schutz, etwa in Syrien. Der Bericht leistet, was das BAMF und die Verwaltungsgerichte umtreibt: Wie ist die Sicherheitslage vor Ort und für verschiedene Personengruppen? Es soll auf den Einzelfall ankommen, ob Syrer wegen der grassierenden Unsicherheit auch dann weiterhin subsidiären Schutz bekommen, wenn der Bürgerkrieg in einigen Regionen inzwischen abflaute. Individuelle Merkmale können eine an sich nicht ausreichende Unsicherheitslage zum subsidiären Schutz verdichten.
Bundeskanzler Olaf Scholz begründete sein Plädoyer für Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan mit einer Abwägung: „In solchen Fällen wiegt das Sicherheitsinteresse Deutschlands schwerer als das Schutzinteresse des Täters“ (hier, S. 22129C). Politisch ist das nachvollziehbar, juristisch aber irrelevant. Bei Personen mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus verlangen die Menschenrechte absoluten Schutz – selbst für Terroristen. Auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes und eines Abschiebungsverbots wegen schwerer Leiden richten sich einzig nach der Situation im Herkunftsland, nicht danach, wie sich jemand in der Bundesrepublik verhält.
Das ist kein Freibrief. Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet Flüchtlinge, die Gesetze des Aufnahmelandes einzuhalten. Deutschland darf also Schutzberechtigte genauso bestrafen wie Deutsche. Es gibt keine Privilegien. Bei der Abschiebung geht es um die zusätzliche Frage, ob ein Ausländer, der schwere Straftaten beging, zusätzlich das Land verlassen muss. Nur das verbietet das Refoulementverbot.
Nun kennt das Refoulementverbot der Genfer Flüchtlingskonvention eine Ausnahme. Artikel 33 Absatz 2 erlaubt die Abschiebung schwerer Straftäter. Auch § 60 Absatz 8 des Aufenthaltsgesetzes normiert eine Ausnahme. Diese ändert freilich nicht das höhere Schutzniveau innerhalb Europas nach Artikel 3 EMRK. Auf diesen stützte sich der EGMR, als dieser der britischen Regierung im erwähnten Urteil untersagte, einen Terroristen nach Indien abzuschieben. Diese verwirrende Gemengelage führt immer wieder zu Missverständnissen (hier, S. 7-9). In der Praxis kann sie mit anderen Vorschriften bewirken, dass schwere Straftäter ihre Aufenthaltserlaubnis verlieren. Sie haben dann weniger Rechte, zum Beispiel keinen Familiennachzug. Die Abschiebung bleibt dennoch verboten.
Es steht der Politik frei, mittels eines Abschiebungsstopps auch dann auf Abschiebungen zu verzichten, wenn die Behörden und Gerichte diese erlauben. Darüber wird die Innenministerkonferenz in Kürze beraten (genauso wie vor dreieinhalb Jahren, als der heutige Sonderbevollmächtigte für Migrationsabkommen von mir ein Gutachten zu dieser Frage erbat). Dies bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass Abschiebungen generell erlaubt wären, wenn der Abschiebestopp endet. Wie immer im Rechtsstaat bleiben Verwaltung und Gerichte an Recht und Gesetz gebunden.
Hiernach obliegt es im Kern dem BAMF, darüber zu entscheiden, ob weiterhin alle Syrer und Afghanen gleichsam automatisch Schutz bekommen sollen. Die aktuelle deutsche Debatte bringt ein Thema auf die Tagesordnung, das dort früher oder später ohnehin gelandet wäre. EU-Lageberichte deuten schon länger darauf hin, dass für Syrien und Afghanistan eine Einzelfallprüfung angezeigt ist. Es ist legitim, wenn die Politik darüber eine breite Debatte führt, auch wenn am Ende die Behörden und Gerichte objektiv über jeden Einzelfall entscheiden müssen.
Vor allem für Afghanistan könnte sich die Asylpraxis vergleichsweise schnell ändern. Ein Abschiebungsverbot wegen schwerer Leiden lässt sich juristisch und tatsächlich einfacher hinterfragen. Bisher ist das OVG Greifswald unter den Obergerichten weitgehend allein. Dies könnte sich ändern, falls das BAMF gut vorbereitete Einzelfälle vor den Gerichten proaktiv verteidigte. Dies gilt wohlgemerkt nur für Personen, die nicht verfolgt werden. Am Asyl- und Flüchtlingsstatus änderte sich nichts.
Wichtiger würde die Rolle der Politik, wenn es darum ginge, eine rechtmäßige Abschiebung praktisch umzusetzen. Spätestens dann würde dem Auswärtigen Amt eine Schlüsselstellung zukommen, weil nur dieses über die notwendigen Kontakte in die Herkunftsregionen verfügt. Indirekt ist das Auswärtige Amt sogar in Afghanistan aktiv. Schließlich verständigte sich die Bundesregierung auf Aufnahmeprogramme für ehemalige Ortskräfte und verfolgte Personen. Diese werden ohne offizielle Kontakte zu den Taliban über private Organisationen und die Nachbarländer abgewickelt.
Dieses Modell kann man nicht direkt auf Abschiebungen übertragen. Das Beispiel zeigt jedoch, dass die Regierung bisweilen innovativ handelt. Private und internationale Akteure könnten auch dann relevant werden, wenn es darum ginge, die Gerichte davon zu überzeugen, dass junge und erwachsene Männer, die nicht verfolgt werden, in Afghanistan keinen Hunger leiden müssten (über 80 % aller Asylantragsteller zwischen 18 und 29 Jahren sind männlich). Denkbar wären auch Zahlungen über Internet-Zahldienste für ein Startkapital während eines Übergangszeitraums.
Juristisch müsste eine Abschiebung nicht über die Zentralregierung stattfinden. Maßgeblich ist die Sicherheitslage in der jeweiligen Zielregion, die vor allem in Syrien andere Machthaber als das Assad-Regime haben kann. Auch könnte sich die Bundesregierung der „Hilfe“ befreundeter Staaten bedienen, zeichnete sodann jedoch für deren Verhalten vollumfänglich verantwortlich. So schieben speziell die Türkei und Pakistan im großen Stil nach Afghanistan ab, ohne dass im Fall der Türkei das Repositorium der EGMR-Rechtsprechung aktuelle Individualbeschwerden aufführte.
All diese Überlegungen zeigen, dass die juristische Fachexpertise in den zuständigen Bundesministerien durchaus Pläne entwickeln könnte, wie Abschiebungen nach Afghanistan und auch Syrien sich rechtfertigen und tatsächlich realisieren ließen. Allein die Liste der rechtlichen Hürden, tatsächlichen Stolpersteine und diplomatischen Gegenargumente bleibt lang.
Ähnliche Debatten erlebte die deutsche Migrationspolitik nach der Kölner Silvesternacht von 2015/16, als es massenhaft zu sexuellen Übergriffen gekommen war, sowie bei islamistischen Terroranschlägen der Folgejahre. Passiert ist meistens nichts. Es könnte also gut sein, dass die beinharte Kanzlerforderung nicht zuletzt ein Wahlkampfmanöver war.
Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.
Artikelbild: Juergen Nowak