Europawahl: vor allem Ungebildete wählen die AfD

Was bringt uns diese Erkenntnis? Eigentlich nichts. Was sollen wir machen? Alle Handwerker zwingen, Kunstgeschichte zu studieren, damit sie nicht mehr die rechtsextreme AfD wählen? Fühlen wir, vermutlich Akademiker, uns dadurch besser, das zu wiederholen? Uns zu vergewissern, dass AfD-Wähler halt einfach nur keine Ahnung haben? Ich habe Stories von Freunden zur Europawahl gesehen, die kommentiert haben „Zusammenfassend: AfD-Wähler sind arm und dumm. Überraschung.“ Und noch krasser: „Wenn du dumm und ungebildet bist, hast du einfach die Klappe zu halten. Da bist du einfach zu unqualifiziert für eine Meinung.“ [sic]

Was bringt uns das, außer selbstherrliche Genugtuung? Lernen wir etwas Sinnvolles für die Bekämpfung von rechtsradikaler Ideologie? Kommen wir den Lösungen der vielen Probleme unseres Landes irgendwie näher? Wird dadurch nur eine Person davon überzeugt, die AfD nicht mehr zu wählen, wenn wir genauso autoritär, demokratie- und menschenverachtend werden wie die AfD? Wenn wir anderen die Meinungsfreiheit absprechen, noch dazu nur aufgrund ihres Bildungsgrades? Das soll links sein oder gar demokratisch?

Nur damit niemand vergisst, dass Volksverpetzer hier nicht die AfD in Schutz nimmt: Wir haben Zitate von AfD-Aussteigern gesammelt, die den Rechtsextremismus und die Inkompetenz der Partei kritisieren, die extremsten AfD-Zitate wie über das „Migranten vergasen“ oder über das faschistische Gedankengut von Höcke und wir haben eine Petition gestartet, dass der Bundesrat die Prüfung eines AfD-Verbots einleitet. Wir zeigen auf, wie sehr die AfD pausenlos Hass und Lügen verbreitet.

Aber Beiträge, die sich direkt oder indirekt auf „Schau, wie dumm AfD-Wähler sind!“ herunterbrechen lassen, sind vielleicht ganz nett, um sich seiner eigenen moralischen Überlegenheit zu vergewissern, aber letztlich bedeutungslos. Sie bekämpfen nicht den Aufstieg des Rechtsextremismus. Im Gegenteil, ich halte sie sogar für kontraproduktiv. AfD-Wähler halten uns sowieso schon für den Erzfeind, wenn wir sachlich und freundlich ihnen unangenehme Fakten aussprechen. Derartige Demokratiefeindlichkeit bestätigt sie erst recht noch in ihrer eigenen.

So verstehen wir das Problem nicht und dann werden wir es auch nicht bekämpfen können. Es gibt viele Erklärungsansätze. Ja klar, die rechtsextremen Positionen der AfD werden auch in der Europwahl zu großen Teilen einfach auch von Menschen mit rechtsextremen Weltbildern gewählt, mit autoritären Einstellungen, die es schon immer gab, aber die auch in letzter Zeit zugenommen haben. Eine Stammwählerschaft, bedingungslos auf Parteilinie, trotz der massiven Skandale loyal und im Glauben, so etwas wie Widerstandskämpfer zu sein.

Und das ist ein viel tiefergehendes Problem, eines, das wir auch nicht mit Faktenchecks, Gesprächen zur Aufklärung oder durch das Einladen in Talkshows einfach wegdiskutieren können. Das ist ein tiefes Problem, ein strukturelles Problem, für das es keine einfache, kurzfristige Lösung gibt. Erst recht keines, das sich immer nur darauf fokussiert, diese radikalisierte Minderheit zu umgarnen und dabei den großen Rest der Gesellschaft zu ignorieren, der im Zweifel dann auch nicht wählen geht und vielleicht sogar leichte Beute für Rechtspopulismus wird.

Die AfD argumentiert abseits von Realität mit „alternativen“ Fakten und falschen Erklärungsmodellen. Ihre Pseudo-Lösungsvorschläge für vermeintliche oder reale Probleme der Gesellschaft gehen am Problem vorbei oder werden die Probleme erst verschlimmern. Sie wollen mehr Sicherheit, wollen aber den Zugang zu Schusswaffen für Extremisten erleichtern? Keine sexuelle Aufklärung an Schulen, aber Abtreibungen erschweren oder verbieten? Sie wollen weniger Schutzsuchende, aber ignorieren Fluchtursachen wie Klimawandel? Sie fordern was für den „kleinen Mann“, aber stimmt dafür ab, dass Mindestlöhne gering bleiben, Arbeitsschutz eine Empfehlung und wenig Wohlhabenden wenig bleibt.

Aber genau deshalb ist es falsch, jetzt nach der Europawahl wieder „von oben herab“ auf „Ungebildete“ zu schimpfen. Ich dachte, linke Politik beinhalte es, sich genau für diese Menschen einzusetzen? Ihnen ihr Recht auf Meinung abzusprechen, klingt nicht danach. Deutschland macht keine Politik für diese Gruppen, wir beschimpfen sie als dumm und wundern uns dann, dass sie rechtsextrem wählen. Überraschung.

Während die Preise für Energie für uns Verbraucher weiter hoch sind (obwohl sie im letzten halben Jahr teilweise leicht fallen!), fahren die Energiekonzerne immer höhere Rekordgewinne ein, während die Reallöhne bis vor Kurzem gesunken sind, während die Schere zwischen Arm und Reich seit Jahren auseinander geht, während die Mietpreise seit Jahren immer weiter ansteigen, wird zu wenig darüber gesprochen.

Ständig wird nur über Kriminalität und Sicherheit gesprochen, meistens mit dem O-Ton, dass „niemand“ über das Thema spreche. Auch in einer Zeit (zum Beispiel zwischen 2017 und 2022), in der die Kriminalität fünf Jahre in Folge auf historisch niedrigem Niveau war. Wusstest du, dass anerkannte Asylbewerber unterdurchschnittlich kriminell sind?

Schutzsuchende Männer, die bereits acht Jahre in Deutschland leben, arbeiten zu 86 % – im Vergleich zu 80 % bei Deutschen. Die Gründungsquote von Menschen mit Migrationshintergrund ist doppelt so hoch wie die von Einheimischen. Migranten haben unsere Rentenkasse stabilisiert. Trotzdem berichten mehreren Studien zufolge die Medien nicht nur weit überproportional über Migration und Sicherheit, sondern sogar überwiegend negativ.

Während die Strategien vieler Parteien nicht nur vor der Europawahl zu sein scheint, der AfD nach dem Mund zu reden und ihre Forderungen zu übernehmen, was wissenschaftlich erwiesen genau den gegenteiligen Effekt hat, als sie zu schwächen, wäre vielleicht umgekehrt eine Politik sinnvoll, die den Menschen wirklich hilft, besonders denjenigen, die sozial schwächer oder formal weniger gebildet sind.

Eine im letzten März erschienene Studie untersuchte am Beispiel Pakistan, wie finanzielle Hilfsprogramme die politische Einstellung von Bürgern beeinflusst. Die Studie wurde von Forscherinnen des International Food Policy Research Institute und der Universität Berkeley, Kalifornien, durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht nur für Pakistan relevant: Je stärker sich Bürger von Einkommensungleichheit betroffen fühlen, desto weniger vertrauen sie der Regierung und desto weniger unterstützen sie demokratische Institutionen.

Wichtig ist vor allem der Zusammenhang zwischen gefühltem wirtschaftlichen Wohlstand und der Zufriedenheit der Bürger. Fühlen sich die Leute dem Einkommensdurchschnitt eines Landes zugehörig, dann wird mehr Sozialpolitik seitens des Staates wenig an ihrer politischen Gesinnung ändern. Wenn Menschen aber das Gefühl haben, sie verdienen mehr Geld des Staates und erhalten dieses dann auch, sind sie zufriedener mit der Regierung – und wählen weniger wahrscheinlich rechts. Kontraproduktiv wäre es jedoch, wenn das jeweilige Sozialprogramm eben nicht alle Bürger, die sich betroffen fühlen, erreicht. Dann greift eine Art Sozialneid. Das zeigen auch Umfragen der ARD: Die Einschätzung von niedrigen Lebensstandards war Selbstwahrnehmung.

Auch Forscher der Universität Harvard untersuchten bereits den Zusammenhang zwischen Sozialprogrammen und Wahlverhalten. Sie kamen zum Schluss, dass populistische Parteien dort schlechter abschneiden, wo Länder mehr für soziale Unterstützung ausgeben und wo die Ausgaben im Vergleich zu den früheren Niveaus nicht gesenkt wurden.

Nicht nur klagen diverse Ministerien über unsere Sparpolitik, sogar der Internationale Währungsfonds mahnte an, Deutschland müsste seine Schuldenbremse aufweichen. Auch der Wirtschaftsweise Achim Truger hält Lindners Sparpläne für überzogen. Anstatt zu investieren, wollen wir überall sparen. Also, außer bei Unternehmen, da plante der Finanzminsiter Steuersenkungen. Gerade Förderungen im Osten könnte zielführend sein. Regionale Wirtschaftsförderung ist ein Mittel zum Bekämpfen der AfD – effektiver Wohnungsbau und dadurch bezahlbare Mieten sind ein anderes. Denn wir haben noch mehr Studien, die zeigen, wie man der AfD mit gerechter Politik das Wasser abgreift.

Eine Studie von Autoren der Universitäten Oxford, Mannheim und Zürich zeigt, wie steigende lokale Mietpreise die Unterstützung für rechtsradikale Parteien steigen lässt. In anderen Worten: Wenn Mieten steigen, wählen mehr Leute die AfD. Das vielleicht effektivste Mittel gegen steigende Wohnungspreise wäre, mehr Wohnungen zu bauen. Denn unter anderem steigen die Wohnungspreise so stark an, weil die Nachfrage sehr hoch, das Angebot aber niedrig ist.

Laut dem Ifo-Institut werden 2025 gerade mal 200.000 neue Wohnungen bezogen werden können. Gründe für den Mangel? Gestiegene Baukosten, höhere Zinsen, zunehmende Auflagen und fehlende Baugebiete. Es ist damit bereits jetzt absehbar, dass sich die Krise am Wohnungsmarkt für viele Menschen in Deutschland verschärfen wird. Betreffen wird dies am ehesten Familien, Alleinerziehende und Singles mit geringerem Einkommen.

Genau solche Zukunfsszenarien sind es, die sich die AfD zunutze macht, um Wähler, denen es im Moment sogar vergleichsweise gut geht, anzulocken. Dies zeigt eine weitere Erkenntnis der obigen Studie. Diejenigen Wähler, die zur AfD überwandern, müssen nicht einmal akut von ökonomischen Engpässen bedroht sein. Oftmals reicht es bereits aus, dass sie sich von beispielsweise steigender Inflation oder strukturellen Änderungen im lokalen Mietmarkt bedroht fühlen, um dann die AfD zu wählen. Anders gesagt: Die AfD scheint es zu schaffen, bereits frühzeitig die Ängste der Leute auszunutzen, um sie dann für sich zu gewinnen.

Die beiden größten Milieu-Gruppen, nicht nur bei der Europawahl, die die AfD wählen, kommen aus dem nostalgisch-bürgerlichen Milieu sowie aus der adaptiv-pragmatischen Mitte. Beide verbindet, dass die Wähler nicht unbedingt akut von sozialem Abstieg betroffen sein müssen, jedoch große Angst vor einem Verlust ihres Status Quo haben. Genau an dieser Stelle sollte mehr Sozialpolitik ansetzen: anstatt sich in Debatten ums Gendern zu verlieren – angestoßen übrigens überwiegend von AfD und Union – könnten die regierenden Parteien genau diesen Wählern mehr Sicherheit bieten, indem beispielsweise der Mietpreisanstieg eingebremst würde.

Quelle

Klar ist, dass eine zu überzogene Sparpolitik zu politischer Polarisierung und zum Aufstieg von rechtsradikalen Parteien führt, zumindest ist sie ein wichtiger Faktor, der fast kollektiv übersehen wird. Es ist wichtig, dass wir in der aktuellen Debatte davon wegkommen, irgendwelche spezifischen Gesetzesvorhaben oder soziokulturelle Phänomene als alleinige Sündenböcke für den Aufstieg der AfD heranzuziehen.

Dies ist auch auf wissenschaftlicher Ebene nicht mehr haltbar. Und vergessen wir nicht eine Reform der Pflege, damit alt oder krank werden in Würde möglich ist. Investitionen in Bildung, für Schulen und gut bezahlte, kompetente LehrerInnen. Wir brauchen eine Steuerreform, die nicht nur Unternehmen und Reichen zugute kommt, wir brauchen soziale Lösungen für Arbeitslose. Wir brauchen eine Klimapolitik, die die Verantwortung nicht auf den Verbraucher abwälzt.

Und ja, wir brauchen eine nachvollziehbare, praktikable und vor allem nicht-fremdenfeindliche Migrationspolitik. Eine Politik, die mit Fakten agiert und gangbare Lösungen anbietet. Ein Einwanderungsgesetz, das Menschen legale und gangbare Wege und damit Perspektiven bieten kann. Abschottung löst keine Probleme, schreckt auch nicht ab und tötet unschuldige Menschenleben. Zur Zeit scheint es nur die Möglichkeit zu geben, nichts zu tun oder die fremdenfeindliche Politik der AfD umzusetzen. Kein Wunder, dass einige Menschen dann Rechtsextremen nachlaufen.

Es wählen übrigens wirklich Menschen mit höheren, formalen Bildungsgrad nicht die AfD. Das ist ja nicht faktisch falsch.

Aber wie gesagt, wir leben in Zeiten des Umschwungs, nötiger Veränderungen – in einer globalisierten Welt, in welcher die Klimakrise schon begonnen hat. Und wir brauchen Antworten auf die Probleme der Zeit. Echte Antworten auf echte Probleme. Und weder Rechtspopulismus, noch inhaltslose Selbstbeweihräucherung, noch elitäre und autoritäre Arroganz.

Wusstest du, dass ich fast den gleichen Artikel bereits vor sechs Jahren veröffentlicht habe? Das ist der zweite „Plottwist“ für diesen Artikel (Ja, lernt bitte, Artikel anzuklicken, zumindest wenn ihr sie teilt oder kommentiert). Damals mit einer „Studie“ über den IQ von AfD-Wählenden und natürlich älteren Zahlen, und einer anderen Regierung. Und der „rechtsradikalen“ AfD, statt wie heute der inzwischen rechtsextremen.

Ich habe offensichtlich einiges zur Europawahl angepasst, neue Studien, neue Zahlen und die neuen Realitäten ergänzt. Aber einige Absätze, wie den letzten vor diesem Abschnitt habe ich fast 1:1 übernommen. Diese Dinge sind doch keine Überraschung. Da ist auch eine solide wissenschaftliche Basis dahinter. Wir müssen auch mal darüber reden und die Probleme und Lösungsansätze ernst nehmen. Doch wir drehen uns nur im Kreis. Die einen plappern der AfD nach, die anderen schimpfen auf „dumme“ AfD-Wähler.

So wird das nichts. Wir können autoritäre Einstellungen nicht mit autoritären Einstellungen bekämpfen. Auch nach der Europawahl muss es heißen: Wir schauen auf die Wissenschaft, wir setzen uns für die Demokratie ein, und für das Wohl aller Menschen. Nicht nur denen unseres eigenen Bildungsgrades. AfD-Wähler nicht als Menschen ernst nehmen – egal, ob man die Lügen, mit der die AfD sie belügt, nachplappert oder sie als dumm abstempelt – hat ja auch nicht funktioniert.

Artikelbild: canva.com

 

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