Die „Junge Freiheit“ sorgt sich nach der Veröffentlichung des Sylt-Videos um das Persönlichkeitsrecht. Nur wenige Wochen zuvor verbreitete das Blatt aber selbst Aufnahmen, die ein Unbekannter von Grundschülern gemacht hatte. Eine Geschichte über Ablenkungsversuche, dreiste Doppelmoral und Schulkinder, die ins Visier von Rechtsradikalen geraten.
„Sylt und die neuen deutschen Menschenjäger“ – mit solchen Schlagzeilen möchte die rechtsradikale Zeitung „Junge Freiheit“ für Empörung sorgen. Die Veröffentlichung des Videos von der Nordseeinsel mit unverpixelten Gesichtern sei ein Pranger, die Reaktionen stünden „symptomatisch für eine politische Klasse, die jedes Maß verliert – von den wahren Problemen ablenken will“, heißt es bei der JF.
Dumm nur, dass die Reaktionen aus der „politischen Klasse“ zumeist erst auftauchten, als das Sylt-Video längst viral gegangen war – oder Antworten auf Anfragen von Medien waren. Ablenkung erster Güte ist es allerdings, wenn die JF anführt, es gebe doch nun wirklich wichtigere Probleme als ein paar betrunkene Schnösel, die die ausländerfeindliche Sau auf der Nobel-Ferieninsel rauslassen. Ein Totschlagargument par excellence. Denn angesichts der globalen Katastrophen und Kriege ist dieser Logik zufolge eigentlich fast nichts weiter der Rede wert.
Dafür, dass es eigentlich weit wichtigere Probleme gebe, beschäftigt sich die „Junge Freiheit“ zudem auffällig ausführlich mit dem Sylt-Video – oder präziser formuliert: mit der Kritik und den Reaktionen daran. In diversen Beiträgen werden Reaktionen dokumentiert, die JF präsentiert zudem die „krassesten Entgleisungen“ – offenkundig, um von dem eigentlichen Inhalt abzulenken.
Zudem beschäftigt sich die JF mit der Frage, inwieweit die Veröffentlichung des Sylt-Videos ohne Verpixelung der zu sehenden Personen rechtlich zulässig sei. Eine berechtige Frage, die auch anderswo diskutiert wird. Die „Junge Freiheit“ schickt in dieser Debatte einen „der bekanntesten Medienanwälte Deutschlands“ ins Rennen, der selbst „Correctiv“ „mühelos in die Enge“ treibe.
Der Anwalt führt zu der Angelegenheit aus: „Grundsätzlich ist die Verbreitung von privaten Videos, die Gesichter der Betroffenen zeigen, unzulässig.“ Ausnahmen seien „nur dann zulässig, wenn ein ganz besonderes öffentliches Informationsinteresse an einem zeitgeschichtlichen Ereignis besteht und die Interessen der Beteiligten nicht überwiegen. Solche Fälle liegen aber bei derart niederschwelligen Verfehlungen nicht vor. Da muß es schon um dramatische Verfehlungen gehen, wie beispielsweise die Begehung von aufsehenerregenden Kapitalstraftaten.“
Auch andere Juristen sehen die komplett unverpixelte Veröffentlichung des Videos kritisch, unter anderem wird auf den Seiten des DJV diese Frage diskutiert.
Die juristische Fachseite „Legal Tribune Online“ sammelte dazu verschiedene Einschätzungen, die verschiedene juristische Facetten vermitteln. Für Medienrechtler und LTO-Chefredakteur Dr. Felix W. Zimmermann beispielsweise ist die Frage, ob Bilder der Mitsingenden unverpixelt gezeigt werden dürfen, gerichtlich offen. Dafür spreche, dass das Video ein zeitgeschichtliches Dokument für den Umstand sei, dass rechtsradikale Parolen nicht nur in ersichtlich rechtsradikalen Kreisen, sondern auch in der „High Society“ auf Sylt salonfähig seien, ob nun ernst gemeint oder nicht. Im konkreten Kontext komme hinzu, dass es sich nicht um einen abgeschiedenen Bereich gehandelt habe, sondern um eine freie Terrasse, direkt an einer öffentlichen Straße.
Klar ist, dass es für die Veröffentlichung von Personen ohne Verpixelung einige Voraussetzung gibt, um das Persönlichkeitsrecht der jeweiligen Menschen zu schützen. Dies gilt natürlich noch weit stärker in Bezug auf Kinder – und noch viel stärker auf geschützte Bereiche wie beispielsweise Schulen, bei denen besonders hohe Anforderungen erfüllt werden müssen, bevor Fotos oder Videos veröffentlicht werden dürfen.
Umso bemerkenswerter ist es, dass die „Junge Freiheit“ – also das Blatt, das sich nun so sehr über die Veröffentlichung des Sylt-Videos echauffiert – erst Anfang Mai dazu beigetragen hat, einem heimlich angefertigten Video von Schulkindern Reichweite zu verschaffen. Es handelt sich dabei um ein Video, das ein Unbekannter erstellt hatte – ohne Einwilligung der Kinder, geschweige denn der Eltern oder der Schule. Denn das Video wurde auch noch während der Schulzeit auf einem Schulhof aufgenommen – also einem ganz besonders geschützten Raum.
Für die JF offenbar alles keine Gründe, genau dieses Video selbst zu verbreiten. Die aufrechten Verteidiger von Abendland, veralteter Rechtschreibung und Persönlichkeitsrechten von ausländerfeindlichen Sylt-Touristen schrieben am 3. Mai von „AfD-Haß [Fehler im Original] auf dem Schulhof“. In den Artikel eingebunden: Das besagte Video mit Kindern auf dem Gelände einer Grundschule in Hamburg – gefilmt offenkundig aus einer angrenzenden Privatwohnung. Die Gesichter der Kinder sind zwar nicht zu erkennen, doch lassen sich einzelne Kinder durch Heranzoomen und den weiteren Angaben zum Ort der Aufnahme mutmaßlich identifizieren.
Auch die AfD mischt in dieser Sache mit. Bereits am 18. April stellte Alexander Wolf, AfD-Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft, eine Schriftliche Kleine Anfrage zu dem Video. Darin heißt es:
„Der AfD-Bürgerschaftsfraktion wurde von Anwohnern rund um die Grundschule XXXX [anonymisiert, PG] eine Videosequenz zugetragen, auf der rund 40 Schüler der Grundschule XXX zu sehen sind, wie sie mit dem Spruch „Ganz Hamburg hasst die AfD“ über den Schulhof ziehen. Die Schüler gehen in dem Video in Formation, einer Demonstration ähnlich. Einige von ihnen tragen Transparente. Der Vorfall soll sich nach Angaben der Hinweisgeber am Vormittag des 17. April 2024 zugetragen haben.“
Vor diesem Hintergrund wollte der AfD-Abgeordnete und ehemalige JF-Gastautor vom Senat wissen: „Seit wann ist der Schulleitung oder Fachlehrern der Vorgang vom 17. April 2024 bekannt gewesen?“ Eine erstaunliche Frage, denn wie lange soll der Vorgang wohl bekannt gewesen sein, wenn dieser am Vortag stattgefunden hatte? Dahinter steckt aber wohl die Mutmaßung, es habe sich bei der kleinen Demo von Schulkindern gegen die AfD um eine vom „linksgrünen Establishment“ geplante Aktion gehandelt.
Genau das weisen Eltern der betroffenen Schule allerdings deutlich zurück. In einer Stellungnahme des Elternrats zu dem Video, das auch von der AfD Hamburg via Social Media veröffentlicht wurde, heißt es:
„Demonstrationen sind eine demokratische Selbstverständlichkeit und können auch im Leben von Kindern aktiv oder passiv miterlebt werden. Kinder verarbeiten dabei das, was sie wahrnehmen, oftmals im Spiel, und das „Nachspielen“ einer Demonstration ist in diesem Rahmen deshalb in keiner Weise fragwürdig. Im Rahmen der von der AfD skandalisierten »Schulhof-Demonstration« sind weder strafbare noch verfassungsfeindliche Aussagen getätigt worden.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt auch für Grundschulkinder. Anders als von der AfD und in den Medien der extremen Rechten suggeriert, entstand die »Schulhof-Demonstration« aus einer Initiative der Kinder selbst heraus. Eine Vorbereitung im Unterricht hat nicht stattgefunden. An der Grundschule XXX werden zahlreiche Kinder unterrichtet, die unmittelbar von den an die Öffentlichkeit gekommenen sogenannten „Remigrationsplänen“ der AfD betroffen wären – und dies auch wissen. Deshalb wäre es falsch, ihr Demonstrationsspiel als unernste Angelegenheit abzutun. In Zeiten aufgeheizter Debatten müssen auch Grundschulkinder einen Umgang mit der Realität finden. Eine spielerische Verarbeitung von gesellschaftlichen Konflikten ist nicht nur normal, sondern wünschenswert.“
Die Eltern betonen zudem, die Verwendung von heimlich angefertigten Videoaufnahmen des geschützten Schulraums zum Zweck der politischen Agitation solle eine Drohkulisse schaffen, die Kinder an der freien Entfaltung hindere: „Das so gegenüber den Kleinsten der Gesellschaft vermittelte Signal ‚Wir beobachten Euch‘ ist einschüchternd und bedrohlich.“
Tatsächlich nennt die AfD in ihrer Anfrage den Namen der Grundschule und schreibt dazu: „Die Schüler stammten aus der 3. und 4. Schulklasse, sind also gut zehn Jahre alt.“ In Kombination mit den Aufnahmen der Kinder, deren Gesichter zwar nicht zu sehen sind, dürfte es für Dritte durchaus möglich sein, diese zu identifizieren. Und die Ausführungen des AfD-Abgeordneten Wolf zeigen auch, dass er sich durchaus bewusst war: Die Aufnahmen wurden mutmaßlich in der Schulzeit auf einem Schulhof gemacht.
Dementsprechend erscheint es nachvollziehbar, dass die Eltern der betroffenen Schule die demokratischen Parteien, den Senat und die Schulbehörde auffordern, sich schützend vor die Schule, das Lehrpersonal und die Kinder zu stellen. „Wir erwarten ein klares und bestimmtes Vorgehen gegen das heimliche Abfilmen unserer Kinder auf dem Schulgelände durch schulfremde Personen, die Verbreitung dieses Videos und seinen Missbrauch für eine politische Kampagne der AfD. Wir sind nicht bereit, einen solchen Eingriff in den geschützten Raum Schule hinzunehmen.“
Der Appell der Eltern geht auch in Richtung Medien, denn die hatten sich zunächst vor allem auf die Pressemitteilung der AfD gestützt und berichtet, die Partei vermute eine Manipulation der Kinder. Das Narrativ wurde damit zumindest weitertransportiert; das heimliche Abfilmen von Grundschulkindern und die Verbreitung des Videos durch AfD, JF und andere Rechtsradikale wurde medial jedoch nicht weiter thematisiert.
Mittlerweile, so halten die Eltern fest, kursierten die Aufnahmen mitsamt den Behauptungen der AfD in der Öffentlichkeit – und einschlägige Organe der extremen Rechten berichten darüber – so beispielsweise auch das rechtsextreme „Compact“-Magazin. „Dies ist aus unserer Sicht ein Skandal, der bisher an den seriösen Medien vorbeigegangen ist.“
Höchste Zeit also, die Doppelmoral von Rechtsradikalen klar zu benennen: Während sie bei einem Video mit Hitler-Gruß und ausländerfeindlichen Parolen ablenken und auf Persönlichkeitsrechte von Erwachsenen pochen, haben sie keine Skrupel, heimlich angefertigte Aufnahmen von Schulkindern für die eigene politische Agitation zu instrumentalisieren. Das letzte Wort gebührt somit den Eltern der betroffenen Schule: „AfD, lasst unsere Kinder in Ruhe!“
Artikelbild: Screenshots, canva.com