Am 22.05.2024 wurde in Ulm fernab der Öffentlichkeit ein neues Denkmal für Rafael Blumenstock eingeweiht. Rafael Wurde am 09. November 1990 mitten auf dem Münsterplatz brutal ermordet – die Tat ist bis heute unaufgeklärt.
Seit Jahrzehnten setzen sich, über mehrere Generationen hinweg, Freund:innen von Rafael, linke Aktivist:innen, Antifaschist:innen und queere Menschen dafür ein, dass diese Tat nicht vergessen wird. Denn damals wie heute steht die Frage ungeklärt im Raum: Warum wurde Rafael Blumenstock von mehreren Personen brutal ermordet? Viele Menschen beantworten diese Frage für sich bis heute mit: Getötet weil anders.
Bisher war auf dem Münsterplatz völlig unscheinbar eine Bodenplatte eingelassen. Diese war kaum zu sehen, bis zu einer Reinigung unleserlich und in den letzten Jahren zum Teil mit Tischen und Stühlen der Außengastronomie verdeckt. Nun ist durch die Einweihung der Stele immerhin ein sichtbares Denkmal entstanden.
Die Stadt Ulm hat sich in der Entstehungsgeschichte des Denkmals mit wenig Ruhm bekleckert. Das Vergehen schlapper 33 Jahre und sicherlich auch ein Machtwechsel von CDU zu SPD spielten hier eine bedeutende Rolle. Bis zuletzt wurden Stimmen aus der Stadtpolitik in der Lokalpresse wiedergegeben, die vor einer politischen Vereinnahmung des Gedenken von Aktivist:innen warnen. Dabei ist es der ehemalige Oberbürgermeister Gunther Czisch selbst, der 2021 noch ein neues Denkmal ablehnte, der anfang des Jahres in der Presse den entscheidenden Macher spielt – wir fragen uns: Wer vereinnahmt hier wirklich?
Das dass völlig absurd ist, zeigt sich an dem was linke Aktivist*innen in den letzten Jahren herausgearbeitet haben: Rafael war alternativ. Rafael lebte und liebte anders als die Norm. Rafael lief in Kleidern durch die Stadt und sprach Menschen an. Rafael war politisch interessiert und u.a. bei Hausbesetzungen dabei.
Es ist keine Politisierung oder Vereinnahmung, dass sich sowohl direkt nach Rafaels Tod bis heute Antifaschist*innen, queere Menschen, linke Aktivist*innen um das Gedenken bemühen – Es ist eine Selbstverständlichkeit. Wir können uns alle, aus unterschiedlichen Perspektiven, in Rafael wiedersehen, mit Rafael identifizieren und mitfühlen – Rafael war Teil von uns.
Die neue Stele ist daher auch ein Erfolg, der eben auch aus diesem seit mehreren Jahrzehnten bestehenden Engagement für lokale Erinnerungskultur entstanden ist. Auch wir haben uns letztes Jahr an Rafaels Todestag an einer kleinen Mahnwache beteiligt und werden es dieses Jahr wieder tun: Gegen das Vergessen.
Hinweis: Es ist es uns wichtig Menschen nicht rückwirkend in Kategorien zu drücken, die damals noch nicht genutzt wurden. Deshalb haben wir in diesem Text für Rafael keine Pronomen und keine anderen Zuschreibungen genutzt. Rafael wird bis heute pauschal und fälschlicherweise als schwul bezeichnet. Dem haben mehrere Zeitzeug*innen klar widersprochen. Rafaels Mutter drückte sich 2020 folgendermaßen dazu aus:
Rafael war ein wunderbarer Mensch, der sich in seinem Körper nicht wohl gefühlt hat. Über die Musik hat er sich ausgedrückt.
Zur Einweihung des neuen Denkmals äußerte sich einer der Bruder von Rafael mit folgenden Worten:
Ein Herzensguter Mensch – im falschen Körper
Chronlologie des Gedenkens:
1990er Jahre:
04.11.1990 – Rafel Blumenstock wird ermordet
05.11.1990 – Noch am Abend, als bekannt wurde, dass Rafael ermordet worden war, fanden sich 50 Leute am Tatort ein, unter ihnen Jutta Oesterle-Schwerin, die damalige Bundestagsabgeordnete der Grünen. Auf einem Transparent stand: „Wir trauern“. Am Tatort wurden zahlreiche Kerzen und Blumen abgelegt. Diese Form des Gedenkens blieb mehrere Monate bestehen.
07.11.1990 Drei Tage nach der Tat, hängten Aktivist*innen am Münsterturm in 40 Metern Höhe ein Transparent auf: „Raphael B. wurde Opfer unserer Intoleranz“.
1992 – im Laufe des Jahres wurde ein weißes Holzkreuz mit der Aufschrift „Rafael Blumenstock ermordet 4.11.1990“ in einem Blumenkübel aufgestellt. Dieses kleine Denkmal wurde von der Stadt vom Münsterplatz zunächst in die Fußgängerzone verräumt und 1992 mutmaßlich von Nazis zerstört.
04.11.1991 – um die 50 Menschen versammlen sich zum ersten Todestag mit einem Banner “GETÖTET WEIL ANDERS – RAPHAEL”
04.11.1992 – 50 Menschen demonstrieren zum Todestag mit einem 120kg schwerem Denkmal aus Holz was sie auf den Münsterplatz stellen
Am 2.5.1993 wurde eine Bodenplatte am Münsterplatz verlegt, die an den Mord und an Rafael Blumenstock erinnern soll: „Du lebst in unserer Klage, im Herzen stirbst du nicht. Rafael Blumenstock, ermordet am 4.11.1990“ – sowohl Freund*innen als auch Familie forderten damals ein sichtbareres Denkmal
1995 In einem Gottesdienst im Rahmen der schwul-lesbischen Wochen 1995, wurde noch einmal an Rafael erinnert.
Zu den 2000er Jahren ist uns aktuell nichts bekannt, wir gehen davon aus, dass Gedenken an den Todestagen weitergeführt wurden
2010er Jahre
10. August 2017,Aktivist*innen des Ulmer CSD organisierten ein Gedenken an Rafael Blumenstock
04.11.2018 – Gedenkfeier vom Verein „Christopher Street Day Ulm/Neu-Ulm“
04.11.2019 – Gedenkfeier vom Verein „Christopher Street Day Ulm/Neu-Ulm“
2020er Jahre
Oktober 2020 – eine ausführliche Recherche zu Rafael Blumenstock wird vom Kollektiv.26 – Autonome Gruppe Ulm in Zusammenarbeit mit dem A.I.D.A. Archiv München veröffentlicht. Ebenso wird ein Brief an die Stadt Ulm mit der Forderung nach einem sichtbareren Denkmal gestellt
Nachbau des Denkmals aus dem Freundeskreis von Rafael von 1992 zum 30. Todestag 202004.11.2020 – Gedenkkundgebung vom Kollektiv.26 – Autonome Gruppe Ulm, Young and Queer Ulm e.V., Jusos Ulm, Grüne Jugend Ulm, Neu-Ulm, Alb-Donau, DIE LINKE Ulm / Alb-Donau, Mein Ich gegen Rassismus. Ein neues Denkmal, Nachbau des 1992 erstellten Denkmals wird für 4 Monate auf den Münsterplatz gestellt
Frühjahr 2021 – Nach der Ablehnung eines neuen Denkmals durch den CDU OB Gunther Czisch wird ein Banner am Denkmal aufgehangen mit dem Inhalt “hier zerfält ein Denkmal”
04.11.2021 – Thematisierung des Mordes während einer Hanau Gedenkundgebung und stilles Gedenken an der Bodenplatte
September 2022 – die neue Außengastronomie auf dem Münsterplatz benutzt den Standort der Gedenkplatte für Tische und Stühle.
Touris beim Pizza essen auf der Gedenkplatte04.11.2022 – Gedenkkundgebung von Young and Queer Ulm
04.11.2023 – Gedenkkundgebung von Young and Queer Ulm und AKKU
Frühjahr 2024 – die Gedenkplatte verschwindet vom Münsterplatz, eine Gedenkstele wird angekündigt
22.05.2024 – eine neue Gedenkstele wird eingeweiht, abseits von der Öffentlichkeit
Mehr zu Rafael Blumenstock
Wer mehr zu Rafael Blumenstock und dem Mord wissen möchte dem empfehlen wir folgende Texte:
Beim A.I.D.A. Archiv gibt es einen ausführlicher Recherche zu dem Mord, der damaligen Stadtgesellschaft und dem Gedenken: Gegen das Vergessen! Der Mord an Rafael Blumenstock in Ulm
Der Instagram Account “Hier zerfällt ein Denkmal” der im Jahr 2021 den Zustand der Bodenplatte und den Aktivismus dokumentiert
Auf dem Blog des aufgelösten Kollektiv.26 – Autonome Gruppe Ulm gibt es eine Sammlung an Texten zwischen 2020 und 2022