Was die Reaktionen auf das Sylt-Video über die Wahrnehmung des Rechtsextremismus in Deutschland verrät.
Sicherlich: Die Empörung über das Video von Sylt ist vollkommen nachvollziehbar und angemessen; die dort ausgelebte Begeisterung über die eigene Unverfrorenheit, in locker-alkoholisierter Runde rechtsextreme Parolen zu trällern und dabei dem Standesdünkel zu frönen, ist bemerkenswert unangenehm. Gleichzeitig legen die bundesweiten Schlagzeilen den Blick frei auf die Wahrnehmung des Rechtsextremismus. Denn dass auch und gerade Reiche sehr chauvinistisch und rassistisch sein könnten, erscheint in Deutschland offenkundig noch immer als eine besondere Neuigkeit zu sein.
Dabei sind es Mittelständler, Selbstständige und Unternehmer, die das Rückgrat der AfD bilden, es sind Juristen, Ökonomen und Publizisten, die als Wortführer der nationalautoritären bis nationalrevolutionären Bewegung in Deutschland auftreten – und aus dem politischen Kampf gegen das Establishment, zu dem sie selbst gehören, ein einträgliches Geschäftsmodell entwickelt haben.
Je lauter diese Wortführer in den weit verzweigten „alternativen“ Medienkosmos posaunen, dass sie die Wahrheit, „unzensierte Fakten“ oder den Untergang des Abendlandes, Deutschlands oder der Weltwirtschaft verkünden, umso sicherer kann man sein, dass nun eine weitere Abhandlung aus der seit mehr als 100 Jahren bekannten deutschen Untergangsliteratur folgt – auch wenn Literatur hier ein großes Wort ist. Eher tagesaktueller Content, der sich ideologisch aus dieser Gattung bedient und mit immer neuen Buzzwords SEO-tauglich aufbereitet wird.
Trotz dieser Anpassungen lassen sich diese Texte immer wieder auf eine Grundfrage reduzieren: Wie kann Deutschland noch gerettet werden – sei es vor Sittenverfall, „Gendergaga“ oder Ausländer. Die Recherchen über das Potsdamer Treffen, die für enorme Schlagzeilen sorgten, waren wichtig, die Wucht der Reaktionen überraschte aber wohl auch die Autor*innen selbst, denn die bei dem Treffen diskutierten Konzepte sind alles andere als neu: „Remigration“ – ein Schlagwort aus der „Neuen Rechten“, die ein beachtliches Geschick aufweist, knallharte Deportationspläne für Millionen Menschen sprachlich appetitlich zu verpacken. Rechtsextreme PR können sie – und auch hier waren es Ärzte, Unternehmer und Personen aus dem politischen Betrieb, die sich in gepflegter Runde an Großmachtphantasien ergötzten – und keine saufenden Jugendlichen aus zerrütteten Elternhäusern, die am örtlichen Bahnhof herumhängen.
Neben Großbürgerlichen mischen auch Adelige mit, wenn es um die Rettung Deutschlands geht – aus Tradition. Man denke nur an die Familiengeschichte von Beatrix von Storch. Oder auch an die „Reichsbürger“, die sich seit dem 21. Mai 2024 vor Gericht verantworten müssen. Der Vorwurf: Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll Selbstständige, Ex-Bundeswehrsoldaten sowie eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete zusammengebracht haben, die unter Führung von Heinrich XIII. einen nationalrevolutionären Umsturz geplant haben sollen.
Champagner statt Dosenbier, Austern statt Bockwurst, geknotete Marken-Pullis statt Klamotten aus dem Discounter – wenn nach effektiven Maßnahmen gegen Rechtsextremismus gefragt wird, ist „mehr Bildung“ oder „mehr Gerechtigkeit“ fast immer unter den ersten Antworten. Doch was tun, wenn menschenfeindliche Einstellungen gar nicht durch Unwissenheit entstehen? Oder durch soziale Benachteiligung? Was tun, wenn solche Einstellungen das Resultat sind von Privilegien und Reichtum, die hemmungslos verteidigt werden?
Rechtsextremismus ist kein Problem von armen Menschen und lässt sich ohnehin nicht monokausal erklären, sondern die Gründe für autoritäres Denken, die Abwertung anderer Menschen und die Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit sind vielschichtig. Die Gefahr liegt gerade darin, dass dies ausgeblendet wird, denn rechtsextremes Gedankengut beeinflusst in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus und Institutionen das Denken und Handeln. Das Sylt-Video ist ein eindrückliches Beispiel dafür – und die Reaktionen zeigen, wie viel Arbeit nötig ist, um die Komplexität und ideologischen Hintergründe des Rechtsextremismus öffentlich zu erfassen.
Gastautor: Patrick Gensing. Artikelbild: Screenshot