Was ist Nationalismus?

Wie der Titel unserer Kampagne deutlich macht, wollen wir unter anderem gegen einen immer stärker werdenden Nationalismus vorgehen. Aber was verstehen wir eigentlich unter Nationalismus?

Viele werden bei Nationalismus zuerst an die NPD oder AfD denken, an „stolze Patriot*innen“ oder vielleicht an eine kalkulierte Entgleisung von Konservativen.

Nationalist*innen stellen ihre Liebe zur Nation immer wieder hervor, schwenken zu jeder Gelegenheit Deutschlandfahnen und äußern sich offen chauvinistisch, wenn sie die Vorzüge oder Überlegenheit des eigenen Landes gegenüber anderen betonen.

Das alles ist Nationalismus. Aber nicht nur das. Wenn wir in unserer Kampagne einen immer stärkeren und unverhohleneren Nationalismus auch in anderen Parteien als der AfD kritisieren, dann geht es um mehr als stumpfes Deutschlandfahnen-Schwenken.

Wenn Robert Habeck immer wieder betonen muss, wie stolz er darauf ist, „was dieses Land gerade leistet“, wenn Olaf Scholz „Deutschlands Widerstandsfähigkeit stärken will“, dann ist ist das nichts anderes als nationalistische Rhetorik. Auf die Frage, was „deutsch sein“ bedeute, antwortet Christian Lindner, dabei handele es sich um den „Stolz auf eine Verfassung, die offen ist für den Patriotismus“.

Unterscheiden sich Patriotismus und Nationalismus eigentlich? Patriotismus ist die positive Bezugnahme auf „das Vaterland“ und beinhaltet bereits implizit eine Abwertung derer, die der eigenen konstruierten Gruppe nicht zugehörig sind. Nationalismus ist eine Ideologie, die eine homogene nationale Einheit beschwört und deren Interesse gegenüber anderen Nationen durchsetzen will. Wenn diese Homogenität darüberhinaus an rassistische Vorstellungen über Ethnien geknüpft ist, handelt es sich eindeutig um völkischen Nationalismus. Die Begriffe haben also eine große Schnittmenge und sind schwer abgrenzbar. Patriotismus wird häufig verharmlost oder als Tugend dargestellt, wohingegen Nationalismus eher negativ behaftet ist. Dass Politiker*innen sich selbst als Patriot*innen bezeichnen oder sich positiv auf Patriotismus beziehen, ist keine Seltenheit – als Nationalist*innen würden sich jedoch momentan wenige Politiker*innen bezeichnen, auch wenn ihre politische Agenda genau diesem Begriff entspricht. Nationalismus ist somit aus der bürgerlichen Politik nicht wegzudenken.

Warum ist das so?

Der moderne Nationalstaat hat seinen Ursprung im Antritt der Bourgeoisie als herrschende Klasse – von Anfang an steht die Nation im Zentrum ihrer Rhetorik. Das Nationalbewusstsein gründete sich damals wie heute zwangsläufig mit Feindbildern und umgekehrt ist der Nationalstaat Voraussetzung für eine stabile völkische Identität und vermeintliche Solidarität unter „Volksangehörigen“.

Bis heute sagen bürgerliche Parteien nicht, dass sie Politik für das Bürger*innentum machen, sondern für alle Menschen im Land. Selbst elitäre Marktradikale meinen, dass ihr Programm am Ende dem ganzen Land zu Gute käme, unter anderem durch den längst widerlegten „trickle-down“-Effekt. Dass das eine Lüge ist, da vom obszönen Reichtum der oberen 10 Prozent bei der ärmeren Hälfte der Bevölkerung nichts ankommt, fällt mittlerweile immer mehr Menschen auf. Wer also das Wohl der Nation, des Landes oder „aller“ im kapitalistischen Staat beschwört, meint zwangsläufig das Wohl der herrschenden Klasse. Das Wohl der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist bestenfalls symbolisch mitgemeint.

Was ist der Hintergrund?

Der Widerspruch zwischen Arbeiter*innenklasse und Bourgeoisie soll in der Nation befriedet werden. Alle, egal ob Arbeiter*innen, Kleinbürger*innen oder Kapitalist*innen, sollen um den Erfolg Deutschlands bemüht sein. Sie sollen als Gemeinschaft arbeiten, obwohl diejenigen, die auf ihren monatlichen Lohn angewiesen sind, auf dem Markt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden. An die Arbeiter*innen werden hin und wieder Zugeständnisse gemacht: So dürfen Gewerkschaften die Interessen der Arbeiter*innen in Form von höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen vertreten. Diese Interessenvertretung muss aber immer dem Wohl der nationalen Wirtschaft untergeordnet sein und darf nicht zu weit gehen, denn das Märchen lautet: „Geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut.„ Während nur wenige vom wirtschaftlichem Aufschwung profitieren, sind es auf der anderen Seite diejenigen mit wenig oder keinem Besitz, die die Auswirkungen immer neuer Wirtschaftskrisen als erste und am deutlichsten spüren.

Was ist Standortnationalismus?

Diese Politik, die mit dem Verweis auf „unseren“ Wirtschaftsstandort Deutschland, der gepflegt und beschützt werden muss, begründet wird, nennt man auch „Standortnationalismus“. Er gehört zur ideologischen Grundausstattung aller bürgerlicher Parteien, ist aber auch in Teilen der Arbeiter*innenbewegung zu finden, beispielsweise in vielen Gewerkschaftsführungen. Er wird gerne angeführt, wenn es darum geht, Arbeitskämpfe einzuschränken und zum Wohle der wirtschaftlichen Stabilität des Landes den Burgfrieden zwischen Ausgebeuteten und Ausbeuter*innen auszurufen. So sagte Yasmin Fahimi, DGB-Vorsitzende und SPD-Mitglied, im Januar 2024: „Als Gewerkschaften haben wir selbstverständlich ein großes Interesse daran, dass unser Land weiterhin attraktiv bleibt für industrielle Wertschöpfung und gute Arbeitsplätze in der Industrie.“ In dieser Erzählung wird ein möglichst harmonisches Verhältnis zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten angestrebt – die Besitzer*innen der Produktionsmittel sollen möglichst wenig Ärger mit denjenigen haben, die für sie arbeiten. Im Gegenzug sollen sich die Arbeiter*innen über ein wenig mehr Lohn freuen und Ruhe geben. Der Interessenskonflikt zwischen Chef*innen und Arbeiter*innen wird geleugnet – es wird so getan, als wäre ein „guter“ Arbeitsplatz für beide das gleiche, obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Die Erzählung ist nämlich, dass der Kuchen der gesamten deutschen Wirtschaft wachsen müsse, damit die Gewerkschaften ein größeres Stück verhandeln können. So wird der Standortnationalismus zur Grundlage des Handelns der Gewerkschaftsführung und lieferte das passende Vokabular zur Unterstützung des Sozialabbaus der Agenda 2010 oder für den Verzicht auf Streiks in Zeiten der Krise. So ließ Habeck mit Blick auf parallel stattfindende Arbeitskämpfe zuletzt verlauten, dass wir uns Streiks „momentan nicht leisten“ können. Als Teil der bürgerlichen Herrschaft sind für ihn nicht die Superreichen das Problem, sondern vielmehr diejenigen, die für etwas mehr Lohn auf die Straße gehen und den reibungslosen Ablauf der Wirtschaft stören.

Dass Teile der Arbeiter*innenbewegung bürgerliche Narrative übernehmen, hängt mit der Absage an den Klassenkampf und der Etablierung des Prinzips der Sozialpartnerschaft zusammen: iIn diesem sind Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmervertreter*innen bemüht, gemeinsam Kompromisse zu finden und offene Konflikte zu verhindern, die „dem Land schaden“.

Dies ist Ausdruck der Integration der Arbeiter*innenbewegung in das kapitalistische System und des damit verbundenen Nationalismus.

Nationalismus in all seinen Farben

Während die rassistischen, völkischen Nationalist*innen im öffentlichen Diskurs immer noch eher als Außenseiter*innen betrachtet werden, gehört der Standortnationalismus jedoch zum guten Ton. Aber sind das wirklich zwei verschiedene Ideologien? Oder sind sie vielleicht doch näher verwandt als Habeck, Scholz und Co. zugeben?

Auch in der AfD wird sich um den Standort Deutschland gesorgt, sie beansprucht das sogar als ihr Gründungsanliegen. Besonders in ihren frühen Jahren vertrat sie den Standpunkt, dass der Euro Deutschland schade und eine Rückkehr zur D-Mark der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Marktes und der deutschen Konzerne guttäte. Für das Wohl der Nation, den wirtschaftlichen Erfolg von Deutschland, kämpfen also fast alle Parteien, nutzen dabei allerdings unterschiedliche Begriffe und Symbole.

Wer für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands potenziell oder tatsächlich bedrohlich ist, bekommt das schnell zu spüren. Hierbei kommen auch Rassismus, Sexismus, Ableismus und andere Diskriminierungsformen ins Spiel. Ein Beispiel für den Zusammenhang von Standortnationalismus und Rassismus ist Thilo Sarrazin, ehemaliges SPD-Mitglied und Finanzsenator, der mit rassistischen, kulturkämpferischen Büchern zum Bestsellerautor wurde. Seine Thesen in dem Buch Deutschland schafft sich ab bestanden maßgeblich aus der Sorge, dass Migrant*innen nicht gut verwertbar seien und Deutschland wirtschaftlich schwächen sowie die Sozialsysteme überlasten würden. Rassismus hält so als Rechtfertigung für die Kürzung von Sozialleistungen her. Gleichzeitig machte Thilo Sarrazin sehr deutlich, was aus herrschaftlicher Sicht ein „guter“ Standort bedeutet: „Ein Standort mit niedrigem Einkommen ist auch nicht unbedingt ein schlechter Standort, sondern im Gegenteil, man kann dort billiger produzieren.“

Hoch die internationale Solidarität!

Einerseits führt Nationalismus also zum Zusammenschluss der verschiedenen Klassen innerhalb der konstruierten Gemeinschaft, der Nation. Gleichzeitig wird dadurch aber auch festgelegt, wer nicht dazugehört. Unter dem übergeordneten Ziel des Erhalts und der Steigerung des nationalen Wohlstands, werden internationale Ausbeutungsverhältnisse zur Notwendigkeit. Oft geht damit eine Abwertung und ein Entrechten der Anderen einher. So können Nationen des Globalen Nordens menschliche Arbeitskraft und natürliche Ressourcen des Globalen Südens mit deutlich radikaleren Praktiken, die innerhalb der eigenen Nation nicht toleriert werden, ausbeuten. Die Anhäufung von Kapital schert sich nicht um Menschenrechte oder den Klimawandel. Im Gegenteil: Je größer die Ausbeutung, desto schneller vermehrt sich das Kapital. Der Reichtum einzelner Weniger, in deren Hände sich das Kapital konzentriert, bedarf demnach der Existenz eines Globalen Südens.

Im internationalen Kampf geht es darum, zu erkennen, dass wir der gleichen kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen sind, dass es auch anders funktionieren kann und dass wir unsere Kämpfe verbinden müssen.

Die AfD und beinahe alle anderen Parteien setzen sich für den Wirtschaftsstandort Deutschland ein. Sie vertreten die Behauptung, dass das, was für die Wirtschaft gut sei, für alle Menschen gut sei. Der maßgebliche Unterschied zwischen den Parteien besteht also darin, wie sie für den nationalen Erfolg Deutschlands werben und wie sie die Anstrengungen dafür einfordern. Die AfD schreibt sich auf die Fahne, die vermeintlichen Anliegen der Deutschen besonders hoch zu priorisieren. Ihre Absage an die Europäische Union begründet sich maßgeblich darin, dass diese die deutsche Souveränität untergrabe. Für die AfD sind die anderen Parteien „Volksverräter“, da sie angeblich nicht im Sinne der Deutschen handeln, sondern vermeintlich von fremden Interessen geleitet seien. Dass Parteien beanspruchen, den wahren Willen ihres „Volkes“ zu kennen, ist beinah Standard: So war es zuletzt Anton Hofreiter von den Grünen, der die AfD als „Truppe von Landesverrätern“ bezeichnete. Es ist also stets die eigene Partei, die den angeblichen „Volkswillen“ kennt und umsetzen will – und es sind demnach immer die anderen, die diesen falsch verstehen, vernachlässigen oder sogar verraten. Die meisten Parteien unterschieden sich nicht im „ob“, sondern im „wie“, wenn sie mit Nationalismus versuchen, Frieden zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten herzustellen.

Wir müssen der nationalistischen Logik vollumfänglich eine Absage erteilen, nicht nur ihren hässlichsten Ausprägungen. Stattdessen wollen wir eine antifaschistische Bewegung von unten bauen, frei von Verwertungslogik und Konkurrenzdenken, geleitet von der internationalen Solidarität, die die Grundlagen des Rechtsrucks erkennt und bekämpft.

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