Die Pandemie liegt hinter uns – und begleitet uns noch immer. Vor Kurzem ist neuer Streit entstanden durch die Veröffentlichung der RKI-Protokolle; ein Streit über erlittenes Unrecht, gute Politik, und, vor allem, ein Streit über rückwirkende Deutungshoheit. Eine gute Gelegenheit, uns daran zu erinnern, warum wir uns vor einer „querdenkerischen Erinnerungskultur“ hüten sollten.
„Sine ira et studio“, schrieb der römische Historiker Tacitus, solle man auf die Geschichte zurückblicken. Ohne Zorn und ohne Eifer. Wer sich dem Vergangenen widmet, solle in seiner Beschreibung möglichst objektiv sein, möglichst sachlich, gebührend neutral. Nichts steht einem ungetrübten Blick auf die Geschehnisse mehr im Weg als Parteinahme, Halbwahrheiten und Auslassungen – an diesem Anspruch an die Historie hat sich in den letzten knapp zweitauenden Jahren, seit Tacitus, wenig geändert. Im Gegenteil: Unser Anspruch an Neutralität ist seitdem gewachsen.
Gewachsen sind auch die Gräben zwischen den unterschiedlichen Deutungslagern, was Corona angeht. Den einen ist die Pandemie als globaler Ausnahmezustand in Erinnerung, als Zeit des notwendigen Verzichts und der kollektiven Schadensbegrenzung; als Punkt in der Geschichte, wo man – ohne die Pandemiepolitik zwangsweise gut zu finden oder kritiklos abzunicken – Politiker und Politikerinnen noch weniger um ihre Arbeit beneidete als sonst.
Und ja, auch als Zeit, in der zwischen Pest und Cholera entschieden wurde; in der ein Dilemma auf das nächste folgte. In diesem Lager, zu dem ich mich zähle, erzählen wir die Zeit der Pandemie als eine mal guter, mal schlechter Entscheidungen; eine Zeit jedenfalls, in der wir, beruflich wie privat, fast alle unser Möglichstes gaben, das Schlimmste zu verhindern. Geklappt hat es mal mehr erfolgreich, mal weniger. Wie das mit Prävention so ist: Hope for the best and prepare for the worst.
Im anderen Lager: die Querdenker, die Verschwörungsideologen. Ihr Blick auf die Pandemie ein gänzlich anderer. Cum ira et studio, mit Zorn und Eifer, sogar cum maxima ira et maximo studio, schauen sie auf die Zeit zurück. Auf eine Zeit, die sie eine als Epoche global agierender dunkler Mächte, vorsätzlicher Vertuschung und brutal forcierter, sinnloser Freiheitsentzüge erinnern. So wütend sind sie, dass man ihnen einen weiteren Namen gegeben hat: Wutbürger.
Jetzt die RKI-Protokolle also. Über zweitausend Seiten des Robert-Koch-Instituts aus dem Zeitraum vom Januar 2020 bis April 2021, der heißen Initialphase der Pandemie. Auf Herausgabe der bis vor kurzem unter Verschluss gehaltenen Dokumente klagte ein Blog, den viele Beobachter als verschwörungsideologisch motiviert wahrnehmen. Und das, was dort erklagt wurde, ist in der Tat der feuchte Traum eines jeden Verschwörungsfantasten. Nicht nur hat man interne Dokumente aus dem im konspirativen Milieu verhassten RKI „freigespielt“, nein, die konspirative Twitter- und Telegramfraktion kann sich noch einer weiteren Tatsache erfreuen: Die Seiten sind stellenweise geschwärzt.
Und nun folgt das, was folgen musste: Plattformübergreifend fangen die Aluhüte an zu glühen. Jene, die das RKI für einen Vorhof der Hölle halten, füllen jede noch so kleine geschwärzte Stelle dankbar mit wilden Spekulationen. Die Pandemie? Geplant! Die Lockdowns? Willkürlich! Das Virus? Im Grunde harmlos! „WIR HABEN ES EUCH DOCH DIE GANZE ZEIT GESAGT!“ hallt es – als Wutbürgergeschichtsschreibung – durch die Telegramkanäle, Twitter-Timelines und Facebook-Kommentarspalten der Nation. Bundesweit zeigen Verschwörungsphantasten momentan auf geschwärzte Stellen und tun das, was sie am besten können: Verdrehen und verzerren. Das eigene Weltbild bestätigen nach dem Motto: „Was nicht passt, wird passend gemacht.“
Dabei sind die RKI-Protokolle, nüchtern betrachtet, in etwa so aufregend wie eine heiße Milch mit Honig. Wir sehen Sitzungsprotokolle einer Gesundheitsinstitution, die exakt das tut, wofür sie geschaffen wurde – sich um Gesundheitsangelegenheiten kümmern. Sich austauschen. Mit Experten konsultieren. Prognosen wagen. Eine Entscheidungsgrundlage für die Politik erarbeiten. Große Skandale vermisst man als Nicht-Verschwörungsideologen vollends. „Der Skandal, der keiner ist“ titelt die Tagesschau folgerichtig (manche werden auch hier, natürlich, Vertuschung vermuten).
Volksverpetzer hat analysiert, wie wenig hinter den RKI-Protokollen steckt:
Interessanter als das Klein-Klein der RKI-Protokolle und wichtiger als das konspirative Herumdeuteln an irgendwelchen Leerstellen ist das, was da gerade sozial passiert. Es ist ein verschwörungsideologischer Versuch, die jüngere Geschichte umzuschreiben.
Bevor ich falsch verstanden werde: Es ist absolut legitim, zu fragen, welche Lehren wir aus der Coronazeit ziehen sollten. Ebenso gibt es Schicksale, die uns nach wie vor bewegen sollten; berechtigte Kritik am damaligen Pandemiemanagement muss möglich sein und ist möglich. Denn wer aus der Vergangenheit nichts für die Zukunft lernt, handelt fahrlässig und outet sich als Ignorant. „Das war für uns alle ein Ausnahmezustand“, sagt beispielsweise Alena Buyx, Chefin des Ethikrates: „Wir müssen aufarbeiten, lernen, heilen“.
Eine querdenkerische Erinnerungskultur ist das Gegenteil von alldem.
Die verschwörungsideologische Szene ist null Interesse an einer konstruktiven, „heilenden“ Aufarbeitung. Kein Stück.
Erstens geht es ihnen nach wie vor darum, ihre szenetypischen, vielfach widerlegten Desinformationsnarrative zu pushen. Das Coronavirus sei harmlos, Maskentragen wirkungslos, die Coronaschutzmaßnahmen seien sinnlose Zumutungen und Übergriffe eines quasi-diktatorischen Staates gewesen und so weiter und so fort. Nichts davon stimmt; nichts davon ist richtig; nichts davon wird durch Wiederholung wahrer. Die Journalistin Nicole Diekmann schrieb hierzu neulich: „Ich sag’ mal so: Abgesehen von der Quelle [den RKI-Files, J.S.] hat sich nichts Neues aufgetan. Die Frontlinien verlaufen ziemlich exakt so wie 2021.“ Die RKI-Veröffentlichung sind lediglich ein willkommener Anlass, die altbekannten Verschwörungserzählungen neu in den Ring zu schicken.
Zweitens geht es der Querdenker-Szene um Selbstaffirmation. Weil Verschwörungserzählungen tragende Säulen ihres Selbstbildes sind, gilt es, sie aufrecht zu erhalten – und zwar um jeden Preis. Wer sein Selbstbild aus der Erzählung zieht, ungerecht unterdrückt worden zu sein, wird versuchen, diese Identität auch in Ermangelung von Fakten aufrecht zu erhalten. Die RKI-Protokolle übernehmen die Funktion eines Rorschachtests: Man wirft einen tiefen Blick in die geschwärzten Dokumente und übernimmt projektiv und spekulativ, was man zur eigenen Identitätsstiftung braucht. Versuche, die Geschichtsschreibung auf diese Weise zu kapern, müssen unter einem identitätspolitischen Aspekt verstanden werden.
Vor allem aber – und das ist der gefährlichste Teil – geht es um Rache. Jene, die jetzt die überwiegend unspektakulären RKI-Protokolle als Anlass für erneuten Furor nehmen, wollen keine konstruktive Aufarbeitung, keine Versöhnung und kein Heilen. Ihnen geht nicht um den pathetisch-pastoralen, aber im Kern richtigen Spruch von Jens Spahn: „Wir werden einander viel verzeihen müssen“.
Diese Tatsache ist auch kein gut gehütetes Geheimnis. Seit Jahren schon kursiert innerhalb der konspirativen Szene die Fantasie eines „Nürnberg 2.0“, also die Vorstellung eines juristischen Prozesses, der jenem gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes ähnelt. Das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) schrieb hierzu schon 2021:
Die Aufladung der Gegenseite als das absolut Böse sowie die Darstellung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, rechtfertigen innerhalb des verschwörungsideologischen Milieus ein härteres Vorgehen gegen die vermeintlichen Verschwörer:innen. Die Forderungen richten sich nicht nach demokratisch legitimierten Gerichtsprozessen, sondern nach selbst initiierten Tribunalen oder einem „Nürnberg 2.0“. Der Vergleich mit den historischen Prozessen ist dabei nicht zufällig gewählt, sondern soll andeuten: Wer sich so verhält, muss auch mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen – bis zur Todesstrafe.
Wie gesagt, nichts davon ist neu: Zentrale Akteur wie Christian Drosten werden seit Jahren auf diese Weise bedroht. Autorin Katharina Nocun, wegen ihrer aufklärerischen Arbeit selbst regelmäßig von konspirativen Rachefantasien bedroht, formuliert es in meinem Podcast so:
„In verschwörungsideologischen und rechtskonspirativen Kreisen ist mit ‚Aufarbeitung‘ etwas komplett anderes gemeint. […] Das muss man ganz klar sagen. Und da sollte man sich auch nicht täuschen lassen.“
Es darf, soll, ja eventuell muss es sogar eine Aufarbeitung der Coronazeit und eine Evaluation der Corona-Politik geben. Mit etwas zeitlichem Abstand ist das möglich. Um für zukünftige Krisen zu lernen ist das sinnvoll.
Aber wir müssen jene von der Aufarbeitung ausschließen, die nicht Aufarbeitung, sondern Rache wollen. Tribunal- und Vernichtungsfantasien, wie sie uns in den sozialen Medien begegnen, können niemals ein Mittel der Gerechtigkeit sein. Ebenso ist konstruktiver Dialog über die Pandemie mit jenen unmöglich, die sich, auch postpandemisch, jenseits aller Fakten lieber Verschwörungsnarrativen zuwenden. Auf konspirativer Grundlage kann kein sinnvolles Gespräch stattfinden, weder über die Gegenwart – noch über die Vergangenheit. Aufarbeitung gerne, aber wahrheitsgemäß und unideologisch.
Das RKI überlegt, einige Schwärzungen aufzuheben, weitere Interna zu veröffentlichen und das damalige Krisenmanagement somit noch transparenter zu machen. Kein schlechter Schritt, vielleicht. Transparenz ist ein wesentliches Element der Demokratie. Aber wird weitere Transparenz jene überzeugen, die jetzt versuchen, die Vergangenheit umzuschreiben, um ihre Wut in der Gegenwart zu legitimieren? Wohl kaum. Weil es ihnen nicht um die Wahrheit geht, sondern um ihre eigene Wut. Weil sie keine Aufarbeitung wollen, sondern Rache.
Dr. Jan Skudlarek, Jahrgang 1986, ist Philosoph und Autor. Sein aktuelles Buch heißt „Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht. Streitschrift für ein neues Wir“ (Tropen Verlag). Seine Artikel erscheinen u.a. im Tagesspiegel, auf Steady und im Volksverpetzer. Soziale Medien gibt’s einige, ebenso einen Newsletter. Sein Podcast trägt den semi-originellen Titel „Nicht noch ein Politik-Podcast“. Soeben erschien das Gespräch „Schreiben, Schwarzenegger und die Lust, die Welt brennen zu sehen – mit Katharina Nocun“.
Artikelbild: FooTToo