Werden Jugendliche durch Einsamkeit rechtsextremer? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Wenn jemand in den Rechtsextremismus und in die Demokratiefeindlichkeit abrutscht, kann das vielfältige Gründe haben. Eine Studie hat jedoch einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Rechtsextremismus gefunden: Einsamkeit kann zu antidemokratischen Tendenzen führen. Vielleicht hast du das in deinem eigenen Umfeld auch schon häufiger erlebt: Eine Bekannte oder ein Freund äußert sich zunehmend antidemokratisch, zweifelt daran, dass Demokratie die beste Staatsform ist und rechtfertigt Gewalt als Mittel zum Zweck. Wie genau Einsamkeit entsteht, wie sie mit Rechtsextremismus verknüpft ist und was du konkret tun kannst, wenn dies in deinem Freundes- oder Bekanntenkreis passiert, erfährst du in diesem Artikel.
Hinweis: Sofern nicht anders angegeben, liegen sämtliche Informationen des Artikels dieser Quelle (Studie „Extrem Einsam“) zugrunde.
Die Studie des Progressiven Zentrums, erschienen 2023, kommt zu einigen teils sehr erschreckenden Ergebnissen. Die Autor:innen führten unter anderem eine repräsentative Umfrage unter 1.008 Jugendlichen zwischen 16 und 23 Jahren in Deutschland durch, um herauszufinden, wie viele sich einsam fühlen und wie diese Ergebnisse mit Rechtsextremismus korrelieren. 55 % der Jugendlichen gaben an, dass ihnen manchmal – oder immer – die Gesellschaft fehlt, 25 % haben das Gefühl, anderen Menschen nicht nahe zu sein. Denn Einsamkeit bedeutet nicht nur, oft und sehr lange keinen Kontakt zu Menschen zu haben. Es kann auch heißen, dass du zwar von Menschen umgeben bist, dir deren Gesellschaft aber keine Freude und Sinn gibt.
Wissenschaftlich gesehen wird in diesem Zusammenhang zwischen emotionaler, sozialer und kollektiver Einsamkeit unterschieden. Emotionale Einsamkeit bedeutet, dass eine vertrauensvolle und enge Beziehung fehlt. Wenn jemand sozial einsam ist, fehlt die Einbindung in ein soziales Netzwerk. Bei kollektiver Einsamkeit fehlt die Zugehörigkeit zu größeren gesellschaftlichen Gruppen.
Quelle: „Extrem einsam“ Seite 32
Die Corona-Pandemie hat die Prävalenz, also die Häufigkeit, von Einsamkeit noch einmal erhöht. Während der Pandemie wurden die unter 30-Jährigen zur einsamsten Altersgruppe.
Gleichzeitig scheint auch die geografische Lage deines Wohnorts dazu beizutragen, wie wahrscheinlich Einsamkeit ist. „Einsamkeits-Hotspots“ können beispielsweise Regionen werden, wo Grünflächen und Freizeitangebote fehlen.
Einsamkeit und ihre potenziellen Folgen haben starke demokratische Relevanz: Bei Jugendlichen, die sich häufig einsam, unverbunden und unverstanden fühlen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie Verschwörungserzählungen glauben, politische Gewalt billigen und autoritären Haltungen zustimmen. Diese Ergebnisse der Studie machen deutlich, wie demokratiegefährdend Einsamkeit werden kann. Besonders schockiert haben mich diese Zahlen: nur 57 % der Jugendlichen halten die Demokratie für die beste Staatsform, unter den Einsamen sind es sogar nur 51 %.
Quelle: “Extrem Einsam“ Seite 49
Fest steht natürlich: Bei weitem nicht bei allen Personen, die einsam sind oder sich manchmal einsam fühlen, besteht eine Gefahr oder eine Tendenz zum Rechtsextremismus. Auch bei Personen, die einsam und rechtsextrem sind, muss die Einsamkeit nicht der Grund für ihre Demokratiefeindlichkeit sein. Die Autor:innen stellen jedoch zwei Thesen auf, die erklären, wie Demokratiefeindlichkeit durch Einsamkeit entsteht oder noch verstärkt wird.
Zum einen mindert Einsamkeit das Vertrauen in Andere, gleichzeitig steigt die eigene Unsicherheit an. Indem man aber anderen Personen eben durch die eigene Einsamkeit gleich mal „automatisch“ misstraut, hat man noch weniger (enge) soziale Kontakte und es entsteht eine sich verstärkende Einsamkeitsspirale. Dies wird auch „Self-fulfilling prophecy“ genannt. Zum Anderen kann es auch passieren, dass der Verlust an interpersonellem Vertrauen, also das Vertrauen in andere Menschen, ebenso zu einem Verlust in die öffentlichen Institutionen führt, das heißt, man vertraut Menschen grundsätzlich nicht mehr und somit auch der Politik nicht.
Das Problem ist: haben es Rechtsextreme dann geschafft, einen für sie zu rekrutieren, passiert es auch sehr häufig, dass sich das bisherige, demokratisch-stabile Umfeld von einem abwendet. Dadurch rutscht man weiter in eine Abhängigkeitsspirale hinein. Man wird sich umso stärker mit der neuen rechtsextremen Gruppe identifizieren, weil es eben sie ist, die einem Halt zu geben scheint. Man wird sich mehr und mehr als Repräsentant:in des neuen extremen Verbundes sehen, die Gewaltbereitschaft kann zunehmen.
Wie Menschen durch den Verlust von ihrem stabil-demokratischen Umfeld immer weiter in den Rechtsextremismus abrutschen können, haben auch AfD-Aussteiger:innen berichtet. Hier kannst du in die ARD-Doku über AfD-Aussteiger:innen hereinschauen.
Das Gefährliche an rechtsextremen Organisationen ist, dass sie ihren Mitgliedern das Gefühl vermitteln, einer lohnenswerten Sache zugehörig zu sein, und einen Gemeinschaftssinn stiften – sie wollen, dass du dich zugehörig fühlst. Rechtsextreme Rekrutierungsstrategien adressieren gezielt junge Menschen in vulnerablen Lebenslagen, also auch einsame Jugendliche.
Gerade im Jugendalter bilden Jugendliche ihre Identität noch aus und suchen nach ihrer Zugehörigkeit. Das nutzen Rechtsextreme aktiv aus und beeinflussen die Identitätsbildung von Jugendlichen, um sie für ihre extremistischen Inhalte zu gewinnen. Zentral ist dabei die Abgrenzung von anderen Gruppen, ein starkes „Wir“ gegen „Die Anderen“. So rekrutieren Demokratiefeinde ihre Anhänger:innen und verbreiten ihre gefährlichen Ideologien.
Ein weiteres Problem ist, dass viele Jugendliche ihre Einsamkeit individualisieren und denken, sie müssten vor allem an sich selbst arbeiten, um damit klarzukommen. Oftmals fehlen auch schlichtweg gute Angebote, die Jugendlichen aus ihrer Einsamkeit heraus helfen können. Wir wissen grundsätzlich einfach zu wenig darüber und das ist ein strukturelles Problem mit gravierenden Folgen. Hilfsangebote verlinken wir dir am Ende des Artikels.
Die Autor:innen der Studie stellen klar, dass Antidemokratismus in vielen Bereichen verbreitet werden kann, wie zum Beispiel in der Familie, in der Nachbarschaft oder über Peers. Jedoch spielen auch die Medien eine große Rolle: nicht nur werden Verschwörungsmythen und antidemokratische Inhalte auf Social Media verbreitet, sondern Jugendliche verbringen durch ihre Einsamkeit noch mehr Zeit online, quasi als Coping-Strategie.
Quelle: “Extrem Einsam“ Seite 36
Dadurch geraten sie immer mehr in den Strudel der Einflussnahme von Rechtsextremen und sind immer mehr antidemokratischen Inhalten ausgesetzt. Wie dich zum Beispiel die AfD auf TikTok manipulieren möchte, erfährst du hier:
Auch in Bezug auf Verschwörungsmentalität und Gewalt als politisch legitimes Mittel kommt die „Extrem Einsam”-Studie zu erschreckenden Ergebnissen. 50 % der befragten Jugendlichen glauben, die Regierung verheimliche wichtige Informationen vor der Öffentlichkeit. Ein Viertel der Jugendlichen stimmte der Aussage zu, Gewalt könne zum Erreichen politischer Ziele moralisch gerechtfertigt sein. Bei beiden Indikatoren stimmten einsame Jugendliche mehr zu.
Quelle: „Extrem einsam“ Seite 56
Wir sehen: Einsamkeit hat demokratische Relevanz. Antidemokratismus gerade unter Jugendlichen, die unsere politische Zukunft sind, muss ernster genommen werden und es müssen viel mehr Präventiv- und Ausstiegsmaßnahmen dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Ein großes Problem ist, dass unsere Gesellschaft und Politik noch viel zu wenig über jugendliche Einsamkeit weiß. Die Autor:innen der Studie schlagen deshalb ein „Einsamkeits-Monitoring“ vor, um einsame Jugendliche gezielt zu erreichen, gepaart mit mehr digitalen Angeboten, da einsame Jugendliche analog oft schwer zu erreichen sind. Auch sollte vermehrt der Fokus auf kombinierte Einsamkeits- und Extremismusprävention gesetzt werden.
Was aber kannst du konkret tun, wenn du merkst, dass Freunde, Familie oder Bekannte einsam sind und mehr und mehr in Antidemokratismus und Rechtsextremismus abdriften? Zunächst gilt natürlich: achtet aufeinander, achte auch auf dich selbst und setze dich mit antidemokratischen Inhalten nur so weit auseinander, wie es dir persönlich auch gut tut. Wenn du kannst, versuche, für die Personen in deinem Umfeld da zu sein und sie nicht direkt vorzuverurteilen, sondern im Gespräch zu bleiben, solange es geht. Denn wir haben ja gesehen: Sobald sich das demokratische Umfeld von jemandem abkoppelt, wird die rechtsextremistische Einflussnahme immer stärker.
Das musst du aber selbstverständlich nicht alleine schaffen. Es gibt Organisationen in Deutschland, die sich auf Extremismusprävention und den Ausstieg fokussiert haben. Du kannst sie kontaktieren und nach Rat fragen. Exit Deutschland beispielsweise unterstützt Menschen, die der rechtsextremen Szene den Rücken kehren wollen und hilft ihnen beim Ausstieg. Unter Demokratie leben findest du für jedes Bundesland eine Liste an Organisationen, die Personen unterstützen, die sich aus dem Einflussbereich demokratiefeindlicher Gruppierungen lösen wollen. Auch das zivilgesellschaftliche Forum der BAG Hass im Netz und deren Partner:innen zeigen wichtige Anlaufstellen, um bei dem Thema weitere Informationen einzuholen.
Wie ein gelungener Ausstieg, hier aus der Querdenkerszene, gelingt, und man Verschwörungserzählungen den Rücken kehren kann, kannst du hier lesen:
Artikelbild: canva.com