Joel, 18, wollte mit seinen Freunden Abi in Hamburg machen. Doch dann sollte er nach Ghana abgeschoben werden. Nur das Engagement und eine Petition mit 100.000 Unterschriften konnte das verhindern. Viele wie Joel haben nicht so viel Glück. Warum muss sowas überhaupt passieren? Die Ampel ist vorbei und damit auch ihre Abschiebepolitik. Ob und was die nächste Regierung bezüglich der Asylpolitik ändern oder beibehalten wird, steht noch in den Sternen. Eine demokratische Bundesregierung kann und muss jedoch vieles besser machen als die Ampel, was Asylpolitik angeht.
Wenn es nur noch darum geht, Abschiebezahlen nach oben schrauben zu wollen, ist vielen Politiker:innen vermutlich nicht mehr bewusst, dass es sich dabei um Menschen handelt. Hinter jeder Abschiebung und auch hinter jeder Abschiebeandrohung stehen Personen wie du und ich. Menschen, die teils schon jahrelang in Deutschland leben, arbeiten, zur Schule gehen, Steuern zahlen. Menschen, die sich hier ein Leben aufgebaut haben. Jede:r mit einer eigenen Geschichte und individuellen Beweggründen. 15 exemplarische Geschichten sollen in diesem Artikel aufzeigen, wie grausam, willkürlich, bürokratisch und letztendlich sinnlos die Abschiebepolitik der Ampelregierung war.
Rechtlich gesehen sind natürlich die Bundesländer für die Durchführung von Abschiebungen zuständig. Doch die Bundesregierung hat die Möglichkeit, durch Gesetze Rahmenbedingungen zu schaffen, die einem Rechtsstaat unwürdige Abschiebungen (wie du lesen wirst) überflüssig machen. Das Chancen-Aufenthaltsrecht von 2022 ist dabei ein Anfang. Dass jedoch weiterhin brutal abgeschoben wird, zeigen diese selektiven 15 Abschiebungen.
Bereits hier haben wir analysiert, wie unsinnig und realitätsfern der Ruf nach “endlich in großem Stil abschieben” schon auf rechtlicher Ebene ist:
Diese Abschiebung, die im Sommer Schlagzeilen machte, war zum Zeitpunkt der Abschiebung schlichtweg illegal und führte im Anschluss zu einem regelrechten Zuständigkeitschaos. Aber von vorne. Ein Marokkaner, der seit fünf Jahren mit einer Duldung in Deutschland wohnte, als Koch arbeitete, mit einer Deutschen verheiratet ist und einen Integrationskurs besuchte, sollte abgeschoben werden. Gegen die Abschiebung wurde erfolgreich ein Eilantrag beim Verwaltungsgericht Chemnitz eingereicht, davon erfuhr Mehdi N. noch am Flughafen. Doch sein Abschiebeflieger startete trotzdem. Trotz aller Bemühungen von Mehdi N.s Anwältin erfuhren die bei der Abschiebung involvierten Bundespolizist:innen nichts von dem Gerichtsbeschluss.
Im Anschluss verwiesen Landesdirektion und Stadtverwaltung jeweils auf die Zuständigkeit des anderen – starke Vibes von Asterix & Obelix im Ewigkeits-Behördenhaus an dieser Stelle. Doch der Fall hört hier nicht auf. Im Anschluss an die Abschiebung urteilte das VG Chemnitz, dass Mehdi N. nach Deutschland zurückgeholt werden müsse. Diesen und den ersten Beschluss des VG Chemnitz hob dann das Oberverwaltungsgericht Bautzen auf. Die Abschiebung sei rechtens gewesen – “weil nicht vorgetragen worden sei, “dass die Ehepartner im besonderen Maße aufeinander angewiesen seien“. Zur Begründung verweisen die Richter:innen darauf, dass N. in Chemnitz wohnte, seine Frau aber im weit entfernten Bochum lebt”, wie die TAZ schreibt. Der Antrag von Mehdi N., nach Nordrhein-Westfalen umziehen zu dürfen, wurde noch nicht bearbeitet. Da er geduldet ist, darf er nicht ohne Erlaubnis umziehen. Die Anwältin von Mehdi N. prüft nun eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.
Am ursprünglichen Skandal – dass sich Mitarbeiter einer Behörde über einen Gerichtsbeschluss hinwegsetzten – ändert das Urteil der OVG Bautzen nichts. Auch nicht daran, dass es doch bitte einfachere Wege geben muss, um ein gültiges Visa für einen Mann zu beschaffen, der seit Jahren in Deutschland lebt und arbeitet. Ein Paradebeispiel für deutsche Bürokratie, dass dieser Mann nun erst abgeschoben werden muss, damit er in Marokko ein Visum für Deutschland beantragen kann.
Die sächsische Landesbehörde hat sich mittlerweile bei Mehdi N. entschuldigt und kündigt an, dass in Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft in Rabat eine prioritäre Visabearbeitung angestrebt werden soll. Ebenfalls urteilte das OVG Bautzen, dass die Stadt Chemnitz korrekterweise nicht zuständig war. An der Skurrilität dieses Abschiebefalls ändert dies nichts.
Im August wurde Ibrahim B. nach Sierra Leone abgeschoben, nach dem Abschluss des ersten Jahres seiner Altenpflegeausbildung an der Pflegeakademie Bayerischer Wald. Sein Zeugnis: durchgehend positiv, er hätte ein guter Altenpfleger werden können. Und wir hätten ihn dringend gebraucht: Expert:innen sprechen bereits von einer “Pflegekatastrophe”, bis 2049 werden voraussichtlich 280.000 bis 690.000 Pflegekräfte fehlen, bereits jetzt verhängen Pflegeheime einen Aufnahmestopp. Und unsere Gesellschaft altert immer weiter.
Warum Ibrahim B. keine Ausbildungsduldung erteilt wurde, ist nicht zu erklären. Wie Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat formuliert: “Die Abschiebung eines Pflegeschülers bringt die Perversion bayerischer Politik ans Licht, steigende Abschiebezahlen zu feiern und über den Fachkräftemangel zu jammern.”
Im Mai wurde eine russische Familie aus Niedersachsen nach Spanien abgeschoben, wo sie bereits ein gültiges Visum besaß. Die vierköpfige Familie aus Vater, Mutter, Tochter und Sohn befand sich jedoch in Bienenbüttel (Niedersachsen) im Kirchenasyl, und das aus gutem Grund. Als die Familie auf der Rückreise nach Spanien im Landkreis Uelzen (Niedersachsen) Verwandte besuchten, erhielten Vater und Sohn den Einberufungsbefehl der russischen Armee. Die beiden wollten jedoch nicht in den Krieg ziehen – daraufhin erkrankte die Mutter psychisch schwer und musste sich in stationäre medizinische Behandlung begeben.
Ihr Asylantrag in Deutschland wurde wegen Dublin abgelehnt, die Gemeinde Bienenbüttel gewährte der Familie daraufhin Kirchenasyl. Das BAMF stellte jedoch trotz der psychischen Erkrankung der Mutter keinen Härtefall fest, obwohl Ärzt:innen von einer Abschiebung abrieten und Vater und Sohn bereits Arbeitsangebote vorweisen konnten. Die 16jährige Tochter besuchte ein Gymnasium in Uelzen. Laut einer Vereinbarung von 2015 soll eine Kirchengemeinde Personen aus dem Kirchenasyl innerhalb von drei Tagen entlassen, wenn das BAMF keinen Härtefall feststellt.
Dass trotzdem nach Spanien abgeschoben wurde, stellt für den Flüchtlingsrat Niedersachsen einen Tabubruch dar. Die letzte Kirchenasylräumung mit anschließender Abschiebung fand demzufolge 1998 statt – ausgerechnet unter einer grün-roten Landesregierung wurde nun Kirchenasyl gebrochen.
Der Fall in Bienenbüttel ist jedoch bei weitem kein Einzelfall. Laut Recherchen von Netzpolitik im Mai gab es in den vergangenen zehn Monaten mehr Räumungen aus Kirchengebäuden als in den gesamten zehn Jahren davor. Das Kirchenasyl stützt sich nicht auf eine gesetzliche Grundlage, sondern auf eine Vereinbarung zwischen der Katholischen und Evangelischen Kirche und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Durch das Kirchenasyl versuchen Gemeinden zu verhindern, dass Menschen in potenziell lebensgefährliche und menschenunwürdige Situationen abgeschoben werden. Stattdessen soll diesen Personen die Möglichkeit gegeben werden, dass die Behörden ihren Fall erneut prüfen oder sie nach einiger Zeit Asyl in Deutschland beantragen können.
Generell könnten russische Kriegsdienstverweigerer nach einem umstrittenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin Brandenburg nun häufiger abgeschoben werden – auch nach Russland.
Auch im September wurde, unter Berufung auf das Dublin-Verfahren, in Hamburg Kirchenasyl gebrochen. Ein 29jähriger Afghane wurde nach Schweden abgeschoben. Er war 2015 in Schweden angekommen, sein Asylantrag wurde abgelehnt. Daraufhin reiste er 2024 nach Deutschland ein. Laut Kirchengemeinde war er schwer krank.
Wenige Wochen nachdem er nach Schweden überstellt worden war, ist er wieder nach Deutschland eingereist und hat Asyl beantragt. Sein Antrag wurde abgelehnt. Er wurde sofort festgenommen und sitzt nun im Abschiebegefängnis. Seine erneute Abschiebung nach Schweden steht bevor.
Mitte September wurde eine erst seit kurzem 18jährige Aserbaidschanerin während ihres Termins bei der Ausländerbehörde abgeschoben. Eigentlich sollte ihre Duldung verlängert werden, nun befindet sie sich schon nicht mehr in Deutschland. Sie besaß bereits eine Ausbildungszusage bei der Diakonie in einem Seniorenzentrum als Pflegerin.
Aysu lebte zuvor in der Ukraine, floh dann 2022 nach Deutschland und lernte bereits Deutsch. Der Wohngruppenleiter der Wohngruppe, in der Aysu lebte, schilderte den Abschiebevorgang so: “Dieser Vorgang war das menschenunwürdigste Szenario, das wir jemals im Rahmen der Jugendhilfe miterleben mussten.”
In bessere Worte wie der Hessische Flüchtlingsrat kann man es nicht fassen: „Da wird händeringend versucht, in der ganzen Welt Pflegekräfte anzuwerben, und gleichzeitig wird eine junge Frau, die schon in Deutschland lebt, die die Sprache kann, hochmotiviert ist und in die diese Gesellschaft auch schon erhebliche Ressourcen investiert hat, trotz eines Ausbildungsplatzes in der Pflege von jetzt auf gleich abgeschoben. Das ist doch rational nicht mehr zu verstehen.”
Eben noch mit einem Schulpreis ausgezeichnet, dann nach Spanien abgeschoben: Auch im Saarland gab es dieses Jahr einen unerklärlichen Dublin-Abschiebefall. Die 19jährige Schülerin Maya wurde zusammen mit ihrem Bruder im Oktober abgeschoben. 2017 floh die syrische Familie nach Spanien und erhielt dort internationalen Schutz. Die Zustände waren jedoch katastrophal – mehrmals versuchte die Familie nach Deutschland einzureisen, und wurde 2021 bereits nach Spanien abgeschoben.
Die Zustände: Sie mussten in einer stillgelegten Drogenheilstätte wohnen, das meiste Essen sei abgelaufen gewesen. Die Familie kam erneut nach Deutschland zurück, musste erneut ausreisen, um einer Abschiebehaft zu entgehen. Die Lösung: ein Ausbildungsvertrag als Pflegefachkraft. Ein Visum dafür wurde dann jedoch bei der deutschen Botschaft in Spanien abgelehnt, nun also die erneute Abschiebung.
Und das, obwohl Maya 2023 für ihre bemerkenswerten schulischen Leistungen den Schulpreises ihres Landkreises erhielt. Sie spricht nahezu perfektes Deutsch. Ihr älterer Bruder hatte gerade eine Lehre in einem Maschinenbau-Betrieb aufgenommen. Nun sind sie zurück in Spanien, wo sie die Sprache nicht sprechen und bereits in der Vergangenheit auf der Straße leben mussten. Wieder schiebt Deutschland zwei Menschen ab, von denen das Land nur hätte profitieren können. Das Land Saarland hat ihre Härtefallkommission nicht um Dublin-Fälle erweitert.
Ähnlich wie Maya erging es der Syrerin Dela, die ebenfalls aufgrund der Dublin-Regeln nach Spanien abgeschoben wurde. Nun lebt sie dort getrennt von ihrer Familie, die noch in Deutschland ist, und kann sich nicht mehr um ihre schwer kranke Mutter kümmern. Eine zweieinhalbjährige Einreisesperre ist in Kraft.
Genau wie Maya stach auch Dela mit exzellenten schulischen Leistungen hervor, sie war Klassenbeste und wollte Krankenpflegerin werden. Auch engagierte sie sich als ehrenamtliche Dolmetscherin. Aufgrund der von ihr geschilderten Misshandlungen einer Sozialarbeiterin wollte sie nicht nach Spanien zurück. Für Deutschland keine ausreichenden Gründe, um von einer Abschiebung abzusehen. In Spanien droht ihr nun die Obdachlosigkeit.
Seit 2019 in Deutschland, im Juni 2024 abgeschoben: Auch in diesem Fall ist das Vorgehen der zuständigen Ausländerbehörde nicht nachvollziehbar. Der Ivorer Th. F. lebte mit einer Duldung in Deutschland, 2022 wurde sein Asylantrag abgelehnt. Da er keine Reisedokumente hatte, wurde seine Abschiebung ausgesetzt. Der Ivorer bestritt seinen eigenen Lebensunterhalt in Deutschland, arbeitete und beschaffte sich selbst seinen Pass. Diesen legte er dann der Ausländerbehörde vor, in der Hoffnung, so ein Aufenthaltsrecht zu erhalten.
Anstatt ihm jedoch eine Beschäftigungsduldung zu erteilen, schob die Stadt Hannover den Ivorer einfach ab. Die Begründung: Sein Pass wurde zum 18. Oktober 2023 ausgestellt, seine damals geltende Duldung wurde schlichtweg “rückwirkend” aufgehoben. Wer kann diese bürokratischen Tricks bitte noch verstehen? Zusammenfassend: Th. F. lebte seit 5 Jahren in Deutschland, kooperierte mit den Behörden, arbeitete, zahlte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Fälle wie diese lassen den Glauben an das Funktionieren von Recht und Gerechtigkeit in Deutschland erlöschen.
Besonders bitter, wie die TAZ schreibt: “Hätte F. mit der Abgabe des Passes noch gewartet, hätte ihm auch §25b des Aufenthaltsgesetzes helfen können. Er sieht eine Aufenthaltsgewährung vor, wenn ein geduldeter Ausländer sich „nachhaltig“ integriert hat – mindestens sechs Jahre.” Die Skurrilität des deutschen Aufenthaltsrechts scheint durch nichts zu überbieten zu sein.
Eine Familie wurde in einer Nacht- und Nebelaktion nach Uganda abgeschoben – trotz minderjähriger Kinder (drei und fünf Jahre alt). Die Mutter der beiden Mädchen ist blind, trotz Widerstand wurde sie brutal von den Polizist:innen festgehalten. Sie erfuhr massive Bedrohungen seitens ihrer Brüder vor ihrer Flucht aus Uganda, von unbekannten Tätern erlitt sie mehrfache gewalttätige Übergriffe. Der Asylantrag wurde dennoch abgelehnt.
Mit ihrem Mann lebte sie seit sechs Jahren in Deutschland, die kleinen Mädchen sind hier geboren und gingen in die Kita. Ein drittes Kind ist gestorben und in Deutschland begraben, der Vater bat vor der Abschiebung: “Helfen Sie uns herauszufinden, ob es möglich ist, dass Zahirs* (Name geändert) Grab nicht weggenommen wird. Und wie ich das monatliche Geld bezahlen kann, um sein Grab auf dem Friedhof zu behalten.”
Wie Pro Asyl schreibt: “Die Abholung zur Nachtzeit ist ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte und kann insbesondere für Kinder traumatisch sein. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter rät in ihrem Jahresbericht 2023, diese Praxis zu vermeiden und fordert im Fall von Abschiebungen von Kindern eine Abholung bei Nacht ausnahmslos einzustellen.” Für deutsche Behörden bedeuten diese Empfehlungen nichts.
Zwei Nigerianer wurden trotz vielversprechender Perspektiven in Deutschland abgeschoben. Sie lebten seit 2018 hier. Divine hat seit kurzem sein Fachabitur und wollte Fliesenleger werden. Wisdom schloss seinen Realschulabschluss erfolgreich ab und erhielt schon eine Ausbildungszusage als Krankenpfleger. Erneut zwei dringend benötigte Arbeitskräfte, die Deutschland abschiebt.
Auch bei den beiden missbrauchte die abzuschiebende Behörde einen mutmaßlichen Termin bei der Ausländerbehörde und brachte die beiden ins Abschiebegefängnis.
Im September 2023 wurde eine psychisch kranke Seniorin von der Stadt Solingen nach Georgien abgeschoben, obwohl bereits wenige Tage nach der Abschiebung eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik geplant war. Die Abschiebung traf die 68jährige völlig unvorbereitet, weder sie noch ihr Anwalt kannten den Abschiebetermin.
Das Abschiebungsreporting NRW beschreibt die Konsequenzen der Abschiebung: “Besonders bedrückend ist die Abschiebung auch, weil die Frau während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland ihren Ehemann verloren hat, der an einer schweren Erkrankung verstorben ist. Die Tochter der Frau lebt seit vielen Jahren in Süddeutschland, der Enkel ist deutscher Staatsangehöriger. Sie hätten sich gerne weiter um ihre kranke Mutter und Großmutter gekümmert, doch sie ist nun in Georgien auf sich allein gestellt. Die Angehörigen der Frau berichteten dem Abschiebungsreporting NRW zudem von einem massiven Gewalterleben der Frau durch den Abschiebevollzug. Zudem hat sie in Georgien keinen Zugriff mehr auf wichtige Nierenmedikamente, die sie in Deutschland erhalten hat, weil diese in Georgien nicht erhältlich sind.”
Nach seiner Abschiebung sitzt ein katholischer Konvertit in Mauretanien, das nicht sein Heimatland ist und dessen örtlichen Dialekt er nicht spricht, im Gefängnis, ihm droht womöglich die Todesstrafe. Da der Islam offiziell die einzig zugelassene Religion in dem westafrikanischen Land ist, kann wegen “Abfall vom (muslimischen) Glauben” die Todesstrafe erteilt werden.
Das Abschiebungsreporting NRW beschreibt seinen Fall wie folgt: “Der Mann, der Mitte zwanzig ist und 2018 für die Aufnahme eines Studiums nach Deutschland gekommen war, war im Juli 2023 mit einem Einzelcharter-Flugzeug vom Flughafen Düsseldorf nach Mauretanien abgeschoben worden. Zuvor hatte ihn die Stadt Wuppertal seit März 2023 über vier Monate im Abschiebegefängnis Büren inhaftieren lassen. In Wuppertal hatte er über mehrere Monate einen Vorbereitungskurs zum Eintritt in die römisch-katholische Kirche besucht, war vom Kölner Erzbischof zur Taufe zugelassen worden und schließlich in der Abschiebehaft getauft worden und damit zum Christentum konvertiert.”
Die Abschiebung kam plötzlich, die geplante Taufe musste per Nottaufe in Abschiebehaft erfolgen. Der von dem Mann in Abschiebehaft gestellte Asylantrag wurde abgelehnt, ihm wurde nicht geglaubt, dass er aus intrinsischen Gründen zum Christentum konvertieren wollte. Ein Richter des Verwaltungsgerichts Minden war der Ansicht, ihm würden in Mauretanien keine Sanktionen drohen. Per teurem Einzelcharter wurde er abgeschoben – eine Maßnahme, die aufgrund exorbitanter Kosten eigentlich nur schwer erkrankten oder besonders gefährlich eingestuften Personen angewandt wird.
Die Bundesregierung schreibt auf Anfrage verschiedener Abgeordneter, dass die letzte Todesstrafe wegen Abkehr vom islamischen Glauben in Mauretanien 2014 vollstreckt wurde. Seit 1987 gelte ein “de facto Moratorium”, die Vollstreckung der Todesstrafe sei ausgesetzt.
Auch 2022 ließen einige Abschiebepraktiken Deutschlands viele Menschen sprachlos zurück.
So die Abschiebung einer georgischen Familie aus dem Landkreis Celle. Da die Mutter zum Zeitpunkt der Abschiebung im 7. Monat schwanger war und sich zudem in einer Risikoschwangerschaft befand, konnte sie aus medizinischen Gründen nicht abgeschoben werden. Der Vater und die vier Kinder wurden jedoch bei einer Nachtaktion in einen Flieger nach Georgien gesetzt.
So wurde nicht nur die Familie auseinandergerissen, sondern auch die kindgerechte Versorgung der vier Kinder steht auf dem Spiel. Denn der Vater hat psychische Probleme, soll bereits mehrere Suizidversuche unternommen haben und sei so nicht in der Lage, sich allein um die Kinder zu kümmern.
Seit 2016 ist der Rechtsweg der georgischen Familie ausgeschöpft gewesen, auch ein Antrag bei der Härtefallkommission war erfolglos. Dennoch hätte die Familie aufgrund des 2022 in Kraft getretenen Chancenaufenthaltsgesetzes der Ampelregierung eine Möglichkeit haben können, in Deutschland zu bleiben – so die Grünen-Fraktion des Kreisverbands Celle.
Muzaffer Öztürkyilmaz, Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen, sagt zum Vorgehen der zuständigen Behörden:
„Das Verhalten der Verantwortlichen ist entsetzlich scheinheilig. Erst ignoriert die Ausländerbehörde, dass die Familie aufgrund der Risikoschwangerschaft von Frau M. nicht abgeschoben werden darf, und versucht es dennoch. Als ihr das Ganze zu gefährlich wird, deklariert sie die Aussetzung der Abschiebung zu einem fürsorglichen Akt und bieten [sic!] Frau M. eine „freiwillige Ausreise“ an. Wäre den Behörden tatsächlichen [sic!] an Frau M. und ihrem ungeborenen Kind gelegen, dann hätten sie die Familie nicht auseinandergerissen.“
Im Oktober 2022 wurde ein kurdischer Geflüchteter aus dem Landkreis Vechta (Niedersachsen) überraschend in die Türkei abgeschoben. In seinem Fall lagen alle Bedingungen vor, um im Rahmen des Chancen-Aufenthaltsrechts in Deutschland bleiben zu können. Das Gesetz sieht vor, dass Personen, die vom 31. Oktober 2022 an bereits seit fünf Jahren mit einer Duldung in Deutschland gelebt haben, eine Aufenthaltserlaubnis für 18 Monate bekommen. Während dieser Zeit können sie alle weiteren Voraussetzungen für einen dauerhaften Bleibestatus in Deutschland erfüllen.
Das Gesetz trat am 31.12.2022 in Kraft. Durch den sogenannten “Vorgriffserlass” (Mai 2022) des Landes Niedersachsen wurde geregelt, dass aufgrund der zu erwartenden Gesetzesänderungen schon vor Inkrafttreten des Gesetzes Abschiebungen von Personen, die vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren könnten, ausgesetzt werden. Der Anwalt des betroffenen kurdischen Geflüchteten hatte bereits einen solchen Antrag gestellt. Die Ausländerbehörde sagte in dem Rahmen dem Anwalt bereits telefonisch eine Duldung zu.
Dennoch bereitete die Ausländerbehörde die Abschiebung des Kurden vor, mithilfe eines bürokratischen Schlupflochs. “Ü. habe sich nicht sofort nach Ablauf seines Visums am 16.03.2017 bei den Behörden als Asylsuchender gemeldet, sondern erst am 07.05.2017. Ü. habe sich insofern nicht seit dem 01.01.2017 „ununterbrochen“ erlaubt, geduldet oder gestattet im Bundesgebiet aufgehalten”, wie der Flüchtlingsrat Niedersachsen schreibt. Das Chancen-Aufenthaltsrecht sieht jedoch vor, dass kurzfristige Unterbrechungen von bis zu drei Monaten kein Problem sind – im vorliegenden Fall waren es weniger als zwei Monate. Das war der Ausländerbehörde jedoch egal – dieses Detail trat erst Ende 2022 in Kraft und war nicht Teil des “Vorgriffserlasses”. Die Ausländerbehörde bereitete die Abschiebung hinter dem Rücken des Anwalts und des Betroffenen vor – ein unmenschliches und dem Rechtsstaat nicht würdiges Vorgehen.
Obwohl das Jugendamt die Erziehungsfähigkeit der Mutter anzweifelte, wurde sie dennoch zusammen mit ihrer Tochter nach Sri Lanka abgeschoben. Ein mehrmonatiges gerichtliches Verfahren zur Prüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung lief. Durch die Abschiebung wurde das Kind vom ebenfalls sorge- und umgangsberechtigten Vater getrennt. “Die Situation des Kindes bewertete das Jugendamt in dem mehrseitigen Antragsschreiben an das Gericht als „chronische Kindeswohlgefährdung, die aufgrund der massiven Verletzungen der Aufsichtspflicht [der Mutter] plötzlich akut werden kann“”, wie das Abschiebungsreporting NRW schreibt.
Sebastian Rose vom Abschiebungsreporting NRW kommentierte das Vorgehen der Behörden:
„Der Oberbergische Kreis hat durch die Abschiebung des vierjährigen Mädchens dessen Rechte sowie auch die Rechte des Vaters grob missachtet. Die Beziehung von Vater und Kind ist grundrechtlich streng geschützt. Wie kann es sein, dass ein in Deutschland geborenes Mädchen mitten in einem gerichtlichen Überprüfungsverfahren zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung durch dessen Mutter mit dieser gemeinsam in ein fremdes Land abgeschoben und damit auf unabsehbare Zeit vom ebenfalls sorgeberechtigten Vater getrennt wird? Die Ausländerbehörde hatte Kenntnis über alle anhängigen familiengerichtlichen Verfahren. Doch sie hat diese mit der Abschiebung bewusst unterlaufen.“
Zusammengefasst beschreiben diese 15 “Fälle” exemplarisch, wie hart und sinnlos die Abschiebepolitik der Ampelregierung war. Hier zur besseren Übersicht nochmal die Hintergründe der einzelnen Abschiebungen:
Selbstverständlich fallen viele der aufgeführten Abschiebungen unserer Ansicht nach unter besondere Härte, manchmal ist nicht mehr zum Hintergrund einer Person bekannt – z.B. ob sie bereits arbeitete oder Ausbildungspläne hatte – manche der 15 “Fälle” könnten zu mehreren Kategorien gleichzeitig gezählt werden.
Was wir aber an dieser Stelle betonen wollen: Eine Abschiebung von einer Person, die beispielsweise bereits arbeitet oder einen Ausbildungsplatz in Aussicht hatte, ist deswegen nicht “schlimmer” als die einer Person, die noch nicht in Deutschland Fuß fassen konnte. Diese Nutzenanalyse eines Menschen wäre ebenso menschenfeindlich. Leistung als Maßstab anzusetzen, ob ein Mensch ein Bleiberecht in Deutschland erhält oder nicht, wäre grundlegend falsch.
Uns ist klar, dass viele Abschiebungen auch ohne medialen Aufschrei stattfinden. Das bedeutet nicht, dass sie deswegen “weniger schlimm” sind. Wir haben die obigen 15 “Fälle” deswegen aufgeführt, weil es leider auch Teil der in unserer Gesellschaft herrschenden Aufmerksamkeitsökonomie ist, dass mehr Dramatik zu mehr Aufmerksamkeit führt.
Darüber hinaus sind es keine Einzelfälle, sondern stehen exemplarisch für die unmenschliche Abschiebepolitik in Deutschland.
Noch während ich diesen Artikel schreibe, werden vermutlich Menschen abgeschoben. Einer Vielzahl droht eine Abschiebung, wie zum Beispiel hier kolumbianischen Pflegekräften, ohne die ein Heim für Demenzkranke schließen müsste, oder hier einem staatenlosen Chemnitzer, der schon seit 30 Jahren in Deutschland lebt.
Auch können wir bei weitem nicht alle Abschiebungen, die während der Ampel-Regierung durchgeführt wurden, berichten. Da sind andere viel besser vernetzt und engagiert als wir, wie zum Beispiel Pro Asyl und die Flüchtlingsräte der einzelnen Bundesländer, aber auch alle anderen Menschen im Flüchtlingsengagement. Pro Asyl sammelt jährlich exemplarische “Abschiebefälle”, wie beispielsweise hier für 2023. Lesenswert ist auch diese Sammlung von rund 110 Fällen drohender, versuchter und vollzogener Abschiebungen allein in Nordrhein-Westfalen, dokumentiert vom Abschiebungsreporting NRW.
Doch Abschiebungen sind nicht nur dann hart, wenn sie durchgeführt werden, sondern auch, wenn sie angedroht werden und sich Menschen mit jahrelanger Duldung nie sicher sein können, ob sie morgen noch in Deutschland sein werden. Eine gewisse Planbarkeit der privaten und beruflichen Zukunft sowie das Aufbauen einer menschenwürdigen Routine und eines Alltags in Deutschland sind so nur sehr schwer möglich.
Teilweise kommt es auch zu skurrilen “Fällen”, wie der des Guineers Sekou, der als Dachdecker dringend in seiner Kommune gebraucht wird. Obwohl bekannt ist, dass Guinea keine abgeschobenen Staatsbürger:innen zurücknimmt, wurde Sekou dennoch abgeschoben. In Guinea angekommen durfte er nicht einreisen und ihm wurde ein Rückflugticket ausgestellt – zwei Tage später ist er zurück in Deutschland und lebt nun weiter mit einer Duldung.
Glücklicherweise gab es in letzter Zeit aber auch Beispiele, durch die klar wurde, dass der Einsatz der Zivilgesellschaft gegen Abschiebungen etwas bewirken kann. Wie in Hamburg, als mehr als 100.000 Menschen Unterschriften gegen die Abschiebung eines 18-jährigen Ghanaer sammelten. Schlussendlich darf er bleiben. Oder die Verhinderung der Abschiebung einer 17-jährigen Kurdin und ihrer Großmutter. Gegen die Abschiebung hatten Aktivist:innen und Politiker:innen gekämpft.
Klar ist aber auch: Es kann nicht sein, dass es die Zivilbevölkerung sein muss, die sich mit Herzblut und in ihrer Freizeit für Menschenrechte einsetzt. Denn es sollte der Staat sein, der Menschenrechte schützt und sie nicht mit Füßen tritt.
Abschiebungen sind nicht zwingend notwendig. Niemand muss abgeschoben werden. Nur, weil wir das so wollen und die Gesetze so festlegen. Wenn der politische Wille da ist, können Menschen in Deutschland bleiben und sich hier integrieren, arbeiten, Steuern zahlen. 90 Prozent aller arbeitenden Schutzsuchenden ging 2022 einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach und zahlt damit in die Sozialkassen ein. Auf die willkürliche deutsche Abschiebepolitik weist auch das NRW Abschiebungsreporting hin:
“Der oft schmale Grad zwischen Abschiebung und Bleiberecht – heute Abschiebehaft, morgen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – zeigt beispielhaft die Willkür der deutschen Abschiebepolitik auf.”
Weiter fasst Sebastian Rose zusammen:
„Jede einzelne Abschiebung betrifft Menschen mit je eigenen und individuellen Geschichten. […] Während Politik und Behörden allzu oft suggerieren, es würden vorwiegend „Straftäter:innen“ oder „Gefährder“ abgeschoben werden, treffen Abschiebungen tatsächlich vor allem Familien mit Kindern, Menschen in Arbeit und Ausbildung, unter ihnen auch Pflegekräfte, Angehörige von Minderheiten, Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen, Schwangere und Rentner:innen. Abgeschoben werden auch Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.”
Das alles, um höhere “Abschiebezahlen” zu produzieren und so blind rechten Narrativen hinterherzulaufen. Was die Ampel-Politiker:innen dabei nicht bemerkten: Wir erhalten so nur “the worst of both worlds”. Unsere Migrationspolitik wird sinnloser – aber Wähler:innen kommen so nicht von der AfD zu demokratischen Parteien zurück. Überhaupt haben weit weniger Menschen in Deutschland “Angst vor Migration” als häufig propagiert wird. Die Angst vor der AfD ist fast doppelt so hoch. Die nächste Regierung muss damit aufhören, Migrationspolitik für die AfD und sonst niemanden zu machen.
Artikelbild: Martin Fischer/dpa