Die AfD ist eine rechtsextreme Partei, die von Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit durchsetzt ist. Der parlamentarische Geschäftsführer Baumann heuchelt, wenn er im Bundestag so tut, als würde sich seine Partei gegen “Judenhasser und Vergewaltiger” stark machen. Offensichtlich sind das leere Worte, da der Partei Judenhass und Frauenfeindlichkeit in den eigenen Reihen egal sind. Dass ihr parlamentarischer Geschäftsführer sich im Bundestag Zahlen zu Vergewaltigungen ausdenkt, um gegen Geflüchtete und Muslime zu hetzen ist deswegen an sich keine Neuigkeit. Allerdings hat er damit aus Versehen auf eine echte Problematik mit den Zahlen hingewiesen.
Wenn sich ausgerechnet die rechtsextreme, von frauenfeindlichem und antisemitischem Gedankengut durchzogene AfD als Beschützerin von “Frauen und Juden” aufspielt, dann war es offensichtlich mal wieder Zeit, gegen Muslime und/oder Geflüchtete zu hetzen. So auch in der ersten Sitzungswoche Anfang Oktober. Da stellte sich der parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann ans Rednerpult und erzählte von einer Welt voller Nebelschwaden. Weil die Ausländer alles angezündet hätten oder so. Muss man dabei gewesen sein.
Besonders zynisch wird es allerdings, als der AfDler über sexuellen Missbrauch redet. Dabei prangerte er nicht an, dass in Deutschland jede Woche im Schnitt drei Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet werden. Er kritisierte auch nicht die unzureichenden Mordmerkmale, die verhindern, dass Femizide in Deutschland konsequent als Morde verfolgt werden können. Denn es geht Baumann ja nicht um den Schutz von Frauen, es geht um Hass. Deswegen erfand er einfach mal eine Zahl: 50.000 Vergewaltigungen durch muslimische Flüchtlinge sollen es gewesen sein. Auch auf Twitter verbreitete die AfD-Fraktion diese Zahl, ohne jegliche Quelle.
Man kann schnell erkennen, dass diese Zahl einfach ausgedacht ist und auf keinerlei belastbaren Statistik beruht. Natürlich nicht, die Zahl muss ja auch nur schön plakativ klingen. Nur so kann man sie dann in den sozialen Medien mit großen weißen Buchstaben auf rotem Grund dem nach Skandalen gierenden Wahlvolk hinwerfen.
Doch mit seiner völlig erfundenen Zahl eröffnet Baumann unabsichtlich eine Problematik, die tatsächlich in der Diskussion um Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt relevant ist. Denn man könnte vielleicht erwarten, dass wir hier jetzt die echte, “wahre” Zahl der Vergewaltigungen präsentieren und der AfD eine lange Nase drehen. Doch das wäre nicht nur völlig unangemessen: Es geht auch einfach nicht.
Zunächst einmal: Ja, es gibt natürlich Statistiken dazu. Zum Beispiel die Polizeiliche Kriminalstatistik von 2023. Dort findet man unter “Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall einschl. mit Todesfolge” 12.186 Fälle für das Jahr 2023. Davon 1.193 durch Zugewanderte. Diese Zahl liegt also weit von der AfD-Spinnerei von 50.000 entfernt, selbst wenn man für die letzten 10 Jahre aufsummieren würde. Ganz abgesehen davon, dass “Zugewanderte” nicht dasselbe ist wie “muslimische Flüchtlinge”.
Doch wenn man sich tatsächlich mit Gewalt gegen Frauen beschäftigen möchte, reicht selbst diese Statistik nicht aus. Denn repräsentative Studien zeigen, dass die offiziellen Zahlen vermutlich viel zu niedrig liegen, es also eine sehr hohe Dunkelziffer gibt. Eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 zeigte beispielsweise, dass 13% der Frauen zwischen 16 und 85 bereits von sexueller Gewalt unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen betroffen waren. Das ist wohlgemerkt nur die sehr enge Auslegung von sexueller Gewalt. Betrachtet man auch sexuelle Belästigungen, gaben sogar 58% an, schon mindestens einmal betroffen gewesen zu sein. Eine Studie der Agentur der EU für Grundrechte von 2014 kam zu dem Ergebnis, dass jede dritte Frau über 15 schon einmal sexualisierte und/oder körperliche Gewalt erlebt hat.
Wenn man diese Zahlen auch nur grob auf die deutsche Bevölkerung hochrechnet, drängt sich der Verdacht auf, dass es bei Vergewaltigungen und generell sexualisierter Gewalt eine enorme Dunkelziffer geben muss. So eine Dunkelziffer ist naturgemäß schwer zu erheben. Das Bundeskriminalamt hat es 2022 trotzdem in einer Dunkelfeldstudie versucht. Demnach wurden nur 9,5% aller Fälle von sexuellem Missbrauch und Gewalt bei der Polizei angezeigt. Bei anderen Tatbeständen wie “körperliche sexuelle Belästigung” (2,2%) oder “Zeigen von Geschlechtsteilen” (0,6%) liegt die Anzeigequote noch niedriger.
Also: Die AfD hat sich einfach irgendeine hohe Zahl an scheinbaren Vergewaltigungen ausgedacht, um gegen Migranten und Geflüchtete zu hetzen. Nichts Neues, schenken wir den Rechtsextremen also nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig. Doch das echte Problem der sexuellen Gewalt gegen Frauen müssen wir trotzdem angehen.
Ein erster Schritt, um dieses Problem auf der gesellschaftlichen Ebene zu bekämpfen, wäre deshalb, die Framings in unseren Köpfen zu hinterfragen. Und damit wären wir wieder bei Baumann und seinen Gruselgeschichten im Bundestag. Denn das Bild, welches er in die Köpfe der Menschen pflanzen will, ist: Am gefährlichsten seien für Frauen irgendwelche dunklen Gestalten, natürlich muslimisch und geflüchtet, die sie abends im Stadtpark in Büsche zerren. Und ja, es gibt natürlich auch solche Fälle von Vergewaltigungen. Aber die Realität sieht meist anders aus.
Laut Frauenhaus-Statistik waren 2022 rund 87% aller Frauen, die Schutz in einem Frauenhaus suchten, Opfer von Gewalt durch ihren Ehemann, Partner oder Ex-Partner geworden. Die Kriminologin Katrin Hohl geht im ZEIT-Interview davon aus, dass etwa neun von zehn Vergewaltigungen in einem vertrauten oder zumindest bekannten Umfeld passieren. Sie sieht dabei auch einen Zusammenhang zur hohen Dunkelziffer, da sich die Opfer schämen oder sogar die Schuld bei sich selbst suchen.
Ein weiterer Grund für die hohe Dunkelziffer ist laut BKA auch die Angst davor, nicht genügend Beweise vorweisen zu können. Manche wollen die Tat auch bewusst lieber vergessen. Verständlich angesichts der hohen psychischen Belastungen, die ein Gerichtsprozess mit sich bringen kann – auch wenn der aktuell öffentlich ausgetragene Prozess um Gisèle Pelicot ein Hoffnungsschimmer ist und hoffentlich vielen Betroffenen Mut macht. Denn viele der Gründe, warum Menschen sexuellen Missbrauch nicht anzeigen, sind systemisch bedingt. Es muss also eine gesamtgesellschaftliche Veränderung her.
Natürlich erfordert das ein großes und auch unbequemes Umdenken. Man fühlt sich schließlich viel wohler mit dem Gedanken, dass man sich unter “Vergewaltiger” den Flüchtling, der nachts im Park Frauen auflauert, vorstellen kann statt den netten Onkel von der Familienfeier. Doch wenn man sexuelle Gewalt ernsthaft eindämmen möchte, dann darf man nicht nur darüber reden, wenn es den eigenen Gruselmythen über Geflüchtete oder Muslime dient. Das mag sich nicht so gut klicken und wackelt am selbstzufriedenen Weltbild, ist also für die AfD uninteressant. Aber wir als demokratische Mehrheit sollten diese Taschenspielertricks aufzeigen und ihnen widersprechen.
Artikelbild: canva.com/Screenshot twitter.com