Rechtsextreme erobern in ostdeutschen Kommunen Rathäuser, Landratsämter, Stadt- und Kreisräte, während demokratische Strukturen unter massivem Druck stehen. Rechtsextremismus in den Institutionen führt zu einer Enthemmung der Gewalt auf den Straßen. Die demokratische Zivilgesellschaft fürchtet um ihre finanzielle und rechtliche Sicherheit. In Sonneberg, Pirna und Raguhn-Jeßnitz zeigt sich, was auf dem Spiel steht, wenn Rechtsextreme kommunale Ämter übernehmen – und wie entscheidend zivilgesellschaftlicher Gegenwind ist.
Im thüringischen Landkreis Sonneberg wurde 2023 mit Robert Sesselmann der erste AfD-Landrat der Bundesrepublik gewählt. Der Landkreis gilt seit den 1990er Jahren als rechtsextremer Hotspot und erlebt aktuell eine enorme Enthemmung von Gewalt. Die Beratungsstelle für Betroffene von rechter Gewalt ezra verzeichnet für 2023 eine Verfünffachung rechter Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr, ein Großteil davon wurde nach der Wahl Sesselmanns verübt. Mehrfach kam es zu Angriffen auf Engagierte, die sich den rechtsextremen Kräften im Landkreis entgegenstellten. Das Bündnis Sonneberg gegen Nazis musste seine Arbeit wegen massiver Bedrohungen nach elf Jahren einstellen. Mehrfach wurde die Geflüchtetenunterkunft im Landkreis brutal angegriffen, es flogen Steine durch Fensterscheiben, vermummte Angreifer*innen riefen rassistische Parolen und drangen in das Gebäude ein. Die ehrenamtliche Ausländerbeauftragte hat ihr Amt aufgegeben, nachdem das Landratsamt ihre Arbeit blockierte.
Kurz nach der Wahl weigerte sich Sesselmann zunächst, das Förderprogramm Lokale Partnerschaften für Demokratie in Sonneberg zu verlängern. Nach Druck im Kreistag und im Jugendhilfeausschuss unterschrieb er letztendlich doch. Dass die AfD im Landkreis auch bei der Landtagswahl im September 2024 über 40 Prozent der Stimmen und das Direktmandat erkämpfte, ist keine Überraschung. Die Partei erprobt in Sonneberg die Übertragung ihrer rechtsextremen Agenda auf die Kommunalpolitik. Landräte stehen Verwaltungsbehörden vor, die etwa das Waffengesetz, das Aufenthalts- und Versammlungsgesetz oder das Asylbewerberleistungsgesetz umsetzen. Hier ist der Handlungsspielraum für die AfD groß, ebenso der Druck auf die demokratische Zivilgesellschaft.
Von einem Rückzug der demokratischen Zivilgesellschaft, von einem „Shrinking Space“ Sonneberg kann aber nicht die Rede sein. Im Juli 2024 fand erstmals ein CSD in der Stadt statt, dank Unterstützung aus dem benachbarten Coburg (Bayern). Das Bündnis „Sonneberg zeigt Haltung“ setzt deutliche Zeichen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus und motiviert von CDU-Mitgliedern über Kirchengemeinden bis hin zu Sportvereinen und linken Aktivist*innen viele Menschen dazu, den Normalzustand nicht hinzunehmen. Diese Akteur*innen brauchen unbürokratische Förderung, überregionale Solidarität und jede denkbare Unterstützung. Nur dann haben sie eine Chance, Gegenentwürfe aufzuzeigen und Schutzräume für ein solidarisches Miteinander zu erhalten.
Pirna ist ein Ort der NS-„Euthanasie“: Hier wurden über 13.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen gequält und ermordet. Viele Bürger*innen arbeiteten für die Vernichtung. Nach 1945: Schweigen als Strategie des Vergessens. Menschenfeindliche Ideologien wurden in den Familien weitergegeben. Seit den 1990er Jahren ist das sächsische Pirna eine Hochburg der extremen Rechten. Das „Haus Montag“ ist seit 2013 Versammlungs-, Wohn- und Veranstaltungsort von NPD, Freien Kameradschaften, heute von den Freien Sachsen und anderen.
Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die AfD in Pirna mit knapp 30 Prozent stärkste Kraft. Steffen Janich zog als Direktkandidat in den Bundestag ein. Zuvor war er vom Polizeidienst suspendiert worden, weil er illegale Kundgebungen gegen Covid-19-Maßnahmen organisiert und antisemitische und rassistische Verschwörungsideologien verbreitet hatte. 2024 wurde mit dem parteilosen Tim Lochner der bundesweit erste Oberbürgermeister auf AfD-Ticket gewählt. Seit der Kommunalwahl stellen AfD und Freie Sachsen gemeinsam mehr als ein Drittel der Stadtrats-Mandate. Lochner sprach von Gesinnungstests für die Mitarbeiter*innen im Rathaus. Seit seinem Amtsantritt wird zum CSD, den es in Pirna seit über zehn Jahren gibt, nicht mehr die Regegenbogenflagge am Rathaus gehisst. Lochner verglich die Flagge mit dem Hakenkreuz. Der CSD findet nun ohne Unterstützung der Stadt statt, erfährt jedoch bundesweite Solidarität.
Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen den rechtsextremen Normalzustand hat in Pirna Tradition: Seit 1998 bietet die „Aktion Zivilcourage“ politische Bildungsarbeit an: Workshops für Kommunen, Schulen und Polizei zu Rechtsextremismus und Hass im Netz. 2020 kürzte der Stadtrat die städtischen Fördermittel dafür erheblich. . Das Alternative Kultur- und Bildungszentrum AkuBiz betreibt seit 2001 historisch-politische Bildungsarbeit und beschäftigt sich mit der regionalen NS-Geschichte. Viele Initiativen bieten Beratung und Angebote für geflüchtete Menschen oder solche mit Migrationsgeschichte. Die Zivilgesellschaft ist stark – aber rechnet spätestens seit den Landtagswahlen, bei denen die AfD in Pirna 36,7 Prozent der Zweitstimmen und das Direktmandat erhielt, mit umfassenden Fördermittelkürzungen auf Landes- und Kommunalebene. Die Kassen des Landkreises sind leer. Die finanzielle Sicherung der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit ab 2025 ist ungewiss.
Rassismus gehört längst zum Alltag in den Straßen Pirnas, . Die Normalisierung wirkt sich auf die Kreispolitik aus: Im September 2024 war im Landratsamt eine Ausstellung über Geflüchtete und ihre Fluchterlebnisse geplant. Kurz nach Eröffnung ließ Landrat Michael Geisler (CDU) nach Beschwerden von Besucher*innen die Ausstellung entfernen. Die rassismuskritischen Aussagen der Geflüchteten würden polarisieren und „die gesellschaftliche Spaltung vergrößern“.
Alternative Förderungen der demokratischer Initiativen, eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen für die Behebung von Strukturschwächen, überregionale Solidarität, Skandalisierung von Gewalt und Hass sind nötig, um der rechtsextremen Normalisierung Einhalt zu gebieten.
In Raguhn-Jeßnitz, einer ländlichen Gemeinde mit knapp 9.000 Einwohner*innen in Sachsen-Anhalt, wurde 2023 mit Hannes Loth der erste hauptamtliche Bürgermeister der AfD gewählt. Im Stadtrat stellt die AfD seitdem die größte Fraktion. Andere Parteien und Fraktionen arbeiten offen mit der AfD zusammen, es kommt zu einer flächendeckenden Normalisierung von Rechtsextremismus.
So entsteht ein Teufelskreis: In strukturschwachen Gegenden, in denen es ohnehin kaum Begegnungsorte oder zivilgesellschaftliche Aktivitäten gibt, verbreiten sich rechtsextreme Ideologien und Strukturen leichter. Dann trauen sich immer weniger Menschen, dagegen Gesicht zu zeigen. Es entstehen shrinking spaces, Regionen ohne demokratische Zivilgesellschaft, aus der sich auch demokratische Parteien zurückziehen. Die Zustimmungswerte für die AfD steigen weiter, neue rechtsextreme Gruppen entstehen – Raumübernahme und Raumüberlassung.
Wie wirkungsvoll eine demokratische Zivilgesellschaft ist, die sich der AfD entgegenstellt, zeigte sich im benachbarten Bitterfeld-Wolfen. Hier konnte ein breites Bündnis erfolgreich gegen die Wahl eines AfD-Oberbürgermeisters mobilisieren, durch sachliche Aufklärung über die Folgen rechtsextremer Kommunalpolitik und die Präsenz im öffentlichen Raum unmittelbar vor der Wahl. Doch der Preis für diejenigen, die öffentlich Farbe bekennen ist hoch: Die AfD ging strafrechtlich gegen das Bündnis vor und reagierte mit Einschüchterungsversuchen und Angriffen auf Einzelpersonen, die einen offenen Brief unterzeichnet hatten. Die demokratische Zivilgesellschaft im Landkreis, die der Normalisierung von Rechtsextremismus entschlossen entgegentritt, ist Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt. Das mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt dokumentiert zahlreiche „rechtsextreme Ereignislagen“ (Bedrohungen, Gewalttaten, Sachbeschädigung, Volksverhetzung). Die Zahl ist 2023 stark gestiegen, ein Allzeithoch seit Bestehen der Chronik.
Rechtsextreme Gewalt, Rassismus und Queerfeindlichkeit sind in Sonneberg, Pirna, Raguhn-Jeßnitz und anderswo alltäglich. Von Brandmauern kann in den Kommunen keine Rede sein. Jede zehnte Person mit Migrationsgeschichte denkt laut einer Studie ernsthaft darüber nach, Deutschland zu verlassen. Unternehmen wandern aus Ostdeutschland ab, weil Stellen nicht besetzbar sind und der Imageschaden wirkt. Wirtschaftliche und soziale Strukturen erodieren weiter, der Teufelskreis scheint schwer zu durchbrechen.
Dennoch: Aufgeben ist keine Option! Die Zivilgesellschaft ist da, schaut hin, skandalisiert, schützt von Gewalt Betroffene. Noch sind Sonneberg, Pirna und Raguhn-Jeßnitz demokratisch, noch gibt es wehrhafte Menschen, die für Menschenrechte eintreten. Sie brauchen bundesweite mediale Sichtbarkeit, solidarische Unterstützung und nachhaltige, umfassende finanzielle Förderungen.
Artikelbild: Matthias Rietschel/dpa