Letzte Woche konnten wir in der WELT die absolute Gaga-Behauptung lesen, eine 75%-Atomkraft-Strategie ab dem Jahr 2002 hätte uns 600 Milliarden Euro gespart. Grundlage ist eine Gefälligkeitsstudie, dessen katastrophale Methodik zu so falschen Zahlen führt, dass echte Experten auf dieser Grundlage nicht mal eine Detailanalyse für zielführend hielten!
Verfasst wurde der Artikel von Axel Bojanowski, ironischerweise “Chefredakteur Wissenschaft” der WELT-Redaktion. Dieser fiel in der Vergangenheit durch derartig blamable Fehlinformationen zur Klimakrise auf, dass die Einordnung selbiger als bloße Fehler oder Schlampereien als Erklärung immer weniger plausibel sind und eine ideologische Agenda eher als Ursache infrage kommt.
Sollte er hier nicht bewusst die Unwahrheit behauptet haben, ist er in einer Art Lungenfacharzt-Gedächtnis-Torheit auf einen Rechenfehler hereingefallen, für den ein BWLer-Erstsemester zur Strafe die nächste Stunde mit der Eselsmütze in der Ecke stehen müsste: Für die Kosten der Energiewende werden in einer Studie des Norwegers Jan Emblemsvåg Baukosten UND die Erlöse der Anlagen zusammenaddiert.
Wenn also ein Unternehmen im Jahr 2002 in die Installation einer Windkraftanlage eine Million Euro investiert hat und es dann über die EEG-Umlage in den kommenden 20 Jahren eine Million Euro damit verdient hat, hat die Anlage in Bojanowski-Logik 2 Millionen Euro gekostet. Hä? Nach dieser Logik hat eine Firma, die für 50.000 € ein Auto kauft, um es dann für 50.000 € zu vermieten, 100.000 Euro Kosten für das Auto in der Bilanz stehen.
Die Forschungsgruppe der Fraunhofer-Institute ISI, IEG und ISE ist ebenfalls sichtlich irritiert angesichts dieser absurden Methodik bei der Atomkraft-Rechnung:
„Um die Grundsätzlichkeit dieses Fehlers anhand eines einfachen Beispiels zu illustrieren: Nehmen wir an, ein Student kauft sich ein Auto und zahlt dafür monatliche Raten in Höhe von 300 Euro. Die Eltern unterstützen den Autokauf des Studenten mit 200 Euro im Monat. Emblemsvågs Logik folgend kostet das Auto nun monatlich 500 Euro.“
Sie verweisen auch darauf, dass selbst unabhängig von der vollkommen grotesken Logik die Investitionskosten um den Faktor 4 (!) zu hoch scheinen, sich eine weitere Analyse aber eben überhaupt nicht lohne:
„Aufgrund des prinzipiell falschen methodischen Vorgehens erscheint jedoch eine Detailanalyse der Daten nicht zielführend“.
Das ist gewohnt netter Forschungswelt-Sprech für „Der Kollege Emblemsvåg hat hier einen derartig verblödeten Stuss produziert, dass es zielführender für den globalen Erkenntnisgewinn wäre, wenn wir uns alle gegenseitig Nudelhölzer über den Schädel zögen, als auch nur eine Sekunde länger mit dieser grotesken Posse zu beschäftigen“.
Es spielt für diese Geschichte vermutlich eine Rolle, dass Emblemsvåg besagte Atomkraft-Studie in einem Journal veröffentlicht hat, zu dessen Editorial Board er selbst gehört, wo sie es wie durch Wunderhand trotz der hanebüchenen methodischen Fehler durch den Peer-Review geschafft hat.
Mit dieser Grundlage können die Gegner der Energiewende mal wieder wunderbar ihre Geschichte erzählen, dass ohne Erneuerbare einfach alles besser gewesen wäre: Laut Emblemsvåg lägen wir heute bereits bei 75 % Atomstrom, wenn wir 2002 mit dem Neubau von 16 Reaktoren begonnen hätten.
Sicher, wäre Deutschland erst aus der Kohle, und dann aus der Atomkraft ausgestiegen, hätten wir heute bereits eine klar bessere CO₂-Bilanz. Der gleichzeitige Neubau von 16 modernen Kernreaktoren in nur 20 Jahren ist aber eine Leistung, die in demokratischen, liberalen Rechtsstaaten nicht mehr zu beobachten ist. Deswegen geht der Studienautor einfach von chinesischen Bauzeiten aus, die auch deswegen schneller vonstattengehen, weil Bedenken der Bevölkerung dort bestenfalls ignoriert werden.
Höchst unglaubwürdig, dass ausgerechnet die libertäre Poschardt-Crew, die schon Tempolimits und Infektionsschutz als indiskutablen Eingriff in ihre persönliche Freiheit wertet, mit Umsiedlungen oder noch krasseren Maßnahmen für den Bau von AKW einverstanden wäre. Sich auf dieser Basis in einer alternativen Atom-Traumwelt wähnen möchte man aber schon noch.
Dass dieses Verhalten trotz der haarsträubenden Rechenwege Wirkung zeigt, können wir auch an der Berichterstattung beobachten: Der Spiegel hat sich dem Thema angenommen und der Geschichte von den 600 Milliarden € Kosten ohne Atomkraft die Reaktion der Fraunhofer-Institute gegenübergestellt. Hier wird allerdings von einem „Forscherstreit“ gesprochen und davon, dass „auch in der Wissenschaft […] gerade eine Debatte darüber [tobe]“.
Das ist leider genau das, was Desinformation erreichen soll: Den Eindruck vermitteln, dass Forschung keine klaren Erkenntnisse erarbeitet, sondern dass es hier verschiedene Meinungen gibt und am Ende niemand mit Gewissheit sagen kann, was denn nun stimmt. Die Situation ist aber recht klar: Deutschland und so gut wie alle anderen großen Volkswirtschaften bauen aktuell vor allem Wind- und Solarkraft aus, neue Atomkraftprojekte sind im Westen rar.
https://about.bnef.com/blog/wind-and-solar-top-10-of-global-power-generation-for-first-time
Diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten, da die Kosten für Solarkraft, Windkraft und Batterien immer noch sinken.
Sie kann nur verzögert werden. Hierzu wird immer wieder der Blick zurück bemüht auf ein Was-wäre-wenn-damals und Hätten-wir-nur. Aber selbst, wenn die Rechnung mit den 600 Milliarden € nicht auf einem albernen Denkfehler beruhen würde, würde das für unsere heutige Situation rein gar nichts ändern.
Um die Klimakrise zu lösen, müssen wir jetzt nach vorne blicken und die Maßnahmen ergreifen, die uns zur Verfügung stehen. Langatmiges Lamentieren darüber, welche vermeintlichen Fehler vor 22 Jahren gemacht wurden, spart im Jahr 2024 nicht ein Gramm CO₂ ein. Es soll nur ablenken.
Artikelbild: canva.com/Screenshot welt.de