Antisemitismus: So groß ist das Problem heute in Deutschland

Jüdische Gemeinden in der Diaspora wissen schon jetzt, dass es eine Welle des Hasses geben wird. Übrigens wird der Krieg nicht der Grund dafür sein, nur der Anlass.

Dieses Zitat stammt von Blogger Chajm Guski, es ist heute fast genau ein Jahr alt. Guski verfasste den Text unmittelbar nach dem islamistischen Terrorangriff auf Israel durch die Hamas, mit über 1.200 Todesopfern dem schlimmsten Pogrom an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust. Auch heute, ein Jahr später, befinden sich wohl immer noch 64 Geiseln lebend in der Hand der Hamas. Gleichzeitig tobt seitdem wieder ein offener Krieg an mehreren Fronten. Dieser Krieg machte große Teile der Bevölkerung des Gaza-Streifens, aber auch Hunderttausende in Israel und im Libanon, zu Binnenflüchtlingen.

Für das unermessliche Leid in Israel, den palästinensischen Autonomiegebieten und im Libanon ist kein Ende in Sicht, erst kürzlich startete der Iran eine neue Welle an Raketenangriffen auf Israel, während die israelische Armee ihre Angriffe im Libanon verschärfte.

Ein Jahr nach dem Terrorangriff zeigt sich aber auch, dass Guski traurigerweise mit seiner Prognose Recht behalten sollte. Obwohl der Antisemitismus in Deutschland nie wirklich verschwunden war, stieg die Zahl der Vorfälle im letzten Jahr enorm an. In Berlin beispielsweise um 50%. Dieser Anstieg kann nicht allein durch altbekannte antisemitische Kreise, wie die extreme Rechte und islamistische Gruppen, erklärt werden. Stattdessen haben antisemitische Parolen und Ansichten in den letzten 12 Monaten offenbar verstärkt in eigentlich gemäßigten Gruppen, auf palästinasolidarischen Demos und damit auch in Teilen der politischen Linken Fuß gefasst.

Gleichzeitig bleibt Antisemitismus für große Teile der nicht betroffenen Mehrheitsgesellschaft oft eher unsichtbar. Manchmal aus Ignoranz, oft jedoch einfach aus mangelndem Wissen oder fehlender Information. Meldungen über antisemitische Vorfälle in Deutschland schaffen es nur selten aus Kreisen der Betroffenen hinaus in den “Mainstream”. Deswegen sollen in diesem Artikel die vielen Aspekte von Antisemitismus in den vergangenen 12 Monaten beleuchtet werden: Um sichtbar zu machen, wie groß das Problem ist und auch um aufzuzeigen, wie vielfältig sich Antisemitismus zeigen kann.

Für diesen Artikel haben wir über 300 Fälle von Antisemitismus gesichtet, über 100 davon findet ihr in diesem Artikel jeweils in den Tabellen unter den Abschnitten. Wir erheben dabei keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit.

Wenn ihr euch über die Lage in Deutschland informieren wollt, können wir die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) empfehlen. Außerdem führt die Amadeu-Antonio-Stiftung eine Chronik antisemitischer Vorfälle. Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus dokumentiert ebenfalls antisemitische Vorfälle in Deutschland.

Ein wichtiger Einschub noch, bevor der eine oder die andere direkt in die Kommentarspalten rüberspringt. Wir wollten eigentlich vermeiden, in diesem Artikel über Israel und Palästina zu schreiben. Unsere Position ist grundsätzlich klar: Wir stehen hinter dem Existenzrecht des Staates Israel und verurteilen den islamistischen Terror von Hamas, Hisbollah und deren Verbündeten. Wir lehnen jegliche militärische Gewalt gegen Zivilbevölkerung und Journalist:innen ab. Eben weil dieser Konflikt so komplex ist und so viel menschliches Leid erzeugt hat, halten wir uns darüber hinaus aber mit Parolen oder (aus unserer westlichen Perspektive sowieso nur eingeschränkt möglichen) Handlungsempfehlungen an die Konfliktparteien sehr zurück.

Gleichzeitig spielt israelbezogener Antisemitismus seit dem 7. Oktober eine deutlich größere Rolle. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ordnete sogar mehr als die Hälfte aller antisemitischen Vorfälle des Jahres 2023 diesem Typ zu. Daher können wir auch nicht einfach so tun, als gäbe es diese Verbindung nicht.

Um israelbezogenen Antisemitismus von legitimer (und oft auch notwendiger!) Kritik am Handeln der israelischen Regierung oder Armee abzugrenzen, beziehen wir uns vor allem auf die Definitionen von RIAS und Amadeu-Antonio-Stiftung. Außerdem nutzen wir den 3-D-Test. Diesen zu kennen lohnt sich auch für den Alltag. Man kann eine Aussage über Israel daran testen, ob sie eines der drei “D” erfüllt: Dämonisierung Israels, Delegitimierung des jüdischen Staates, Doppelstandards an Israel im Vergleich zu anderen Staaten. Wenn eines oder mehrere der “Ds” zutreffen, handelt es sich um israelbezogenen Antisemitismus. Mehr dazu weiter unten.

Am offensichtlichsten wird die Bedrohung für Jüdinnen und Juden in Deutschland, wenn jüdische Menschen, Menschen, die als jüdisch wahrgenommen werden oder auch nur Menschen und Institutionen, die mit Judentum oder dem Staat Israel assoziiert werden, angegriffen werden. Dass wir hier nicht von einer abstrakten Bedrohung, sondern von einer real existierenden und stattfindenden Gefahr reden, zeigen folgende Beispiele aus den letzten 12 Monaten.

Eine sehr häufige Form von Antisemitismus beziehen sich auf das Holocaust-Gedenken. Diese treffen besonders oft Holocaust-Gedenkstätten, -Mahnmale sowie Stolpersteine, die in Erinnerung an vertrieben und ermordete Jüdinnen und Juden dort verlegt wurden, wo diese einst gelebt haben. Allerdings zeigen sich diese Angriffe auch verbal bzw. in Schriftform, indem die Shoah geleugnet oder relativiert wird.

Diese Angriffe sind in der Regel ein Ausdruck des sogenannten Post-Shoah-Antisemitismus, einer relativ jungen Form des Antisemitismus, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Dabei geht es darum, Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Holocaust (der hebräische Begriff “Shoah” wird oft Synonym zu “Holocaust” gebraucht) abzuwehren und oft implizit oder explizit den Jüdinnen und Juden zumindest eine Mitschuld zu geben. Der Zweck kann dabei “pragmatisch” sein, von der eigenen Schuld abzulenken bzw. sogar juristische oder finanzielle Ansprüche abzuwehren. Er kann aber auch auf moralischer Ebene dazu dienen, die Täter-Opfer-Umkehr gegenüber Jüdinnen und Juden zu erleichtern.

Besonders seit dem 7. Oktober sind oft Beispiele von Post-Shoah-Antisemitismus zu sehen, die einen Bezug zu Israel nehmen. Das Leid der Jüdinnen und Juden im NS-Reich wird dabei mit tatsächlichen oder angeblichen Handlungen der israelischen Regierung und Armee “aufgewogen” und damit relativiert. Das ist nicht nur ein historisch falscher Vergleich, sondern dient gleichzeitig auch dazu, unter dem Vorwand scheinbar legitimer “Israelkritik” einen latenten Antisemitismus zu verbreiten.

Expert:innen wie RIAS sprechen davon, dass der 7. Oktober und der darauf folgende Krieg in Gaza als “Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus” dienen. Die Massaker der Hamas und das gewaltsame Vorgehen der israelischen Armee sind dabei nicht der Anlass für die antisemitische Tat, sondern vielmehr eine politische Rahmenbedingung, die antisemitische Handlungen wahrscheinlicher macht. So können dann beispielsweise Jüdinnen und Juden implizit mit dem Staat Israel gleichgesetzt werden und als “gerechte Rache” für dessen Kriegsführung und Politik attackiert werden. Diese gedanklichen Kurzschlüsse entladen sich dann auf verschiedene Arten.

Auffällig ist dabei, dass auch in Teilen der radikalen Linken Parolen und Positionen übernommen werden, die man sonst vor allem in der extremen Rechten findet. Schon vor einigen Jahren veröffentlichte beispielsweise die rechtsextreme Kleinstpartei “Der III. Weg” einen Artikel unter dem Titel “Israel-Boykott: Was jeder gegen den zionistischen Völkermord tun kann“. Sticker der Rechtsextremisten mit der Aufschrift “Terrorstaat Israel” kleben heute in Deutschland. Nahezu wortgleiche Formulierungen fielen beispielsweise im Mai auf einer propalästinensischen Demo in München.

Hier sind wir quasi an der Schnittstelle zwischen israelbezogenem Antisemitismus und Post-Shoah-Antisemitismus. Indem explizit oder implizit die Kriegsführung der israelischen Armee mit NS-Deutschland oder dem Holocaust gleichgesetzt wird, werden gleichzeitig der Staat Israel dämonisiert UND die NS-Verbrechen relativiert. Eine Warnung vorab: An dieser Stelle wird viel Ambiguitätstoleranz gefragt sein – das heißt, man muss aushalten, dass Kritik an den NS- und Holocaust-Vergleichen nicht bedeutet, dass jegliche Kritik an der israelischen Kriegsführung, den zivilen Opfern und den mutmaßlichen Kriegsverbrechen illegitim wäre.

Manche Gruppen versuchen auch, ihren Antisemitismus mit einer klassischen rechten Diskurstaktik zu verschleiern: Sie nutzen die “Antisemitismus-Keule-Keule”. Vor einigen Jahren haben wir schon einmal über die “Nazi-Keule-Keule” berichtet. Rechtsextreme machen sich kritikimmun, indem sie jegliche Kritik als scheinbar inflationär verwendete “Nazi-Keule” delegitimieren. So können sie sich auch, wenn tatsächlicher Rechtsextremismus angeprangert wird, dahinter verstecken, dass “heutzutage ja alles Nazi” wäre.

So ähnlich funktioniert ein häufiger Reflex, den man zu hören bekommt, wenn man auf israelbezogenen Antisemitismus hinweist. “Heutzutage” sei ja “gar keine Kritik an Israels Regierung/Militär/Kriegsführung mehr möglich”, ohne, dass man gleich die “Antisemitismus-Keule” bekomme. Offensichtlich ist das Unsinn. Es protestieren zeitweise Hunderttausende in Israel gegen die Regierung, Außenministerin Annalena Baerbock kritisierte die israelische Regierung bereits scharf, auch und vor allem von deutschen Jüdinnen und Juden gibt es immer wieder Kritik bezogen auf die Kriegsführung und die Lage der Geiseln.

Deswegen auch am Anfang des Textes der Verweis auf den 3D-Test. Solange eine Kritik ohne Dämonisierung, Delegitimierung oder Doppelstandards gegenüber dem Staat Israel auskommt, ist sie kein Antisemitismus. Allerdings ist ein Vergleich mit dem NS-Reich und explizit mit dem Holocaust, aufgrund dessen die Vorfahren etlicher Israelis ja erst nach Israel geflohen sind, definitiv eine solche Dämonisierung. Und sie ist immer wieder auch auf deutschen Straßen zu finden, wie folgende Beispiele zeigen.

Auch die grundsätzliche Delegitimierung des jüdischen Staats, also die Absprechung des Existenzrechts von Israel ist auf deutschen Demos allgegenwärtig. Insbesondere die Parole “From the river to the sea – Palestine will be free” (oder Abwandlungen davon) ist oft zu hören. Während noch umstritten ist, ob und wann diese Parole strafbar ist, wird mit ihrer Verwendung immer Hamas-Propaganda normalisiert. Denn die Forderung, Palästina müsste “from Fluss bis zum Meer” frei sein, ist ein zentraler Teil der Charta der islamistischen Terrororganisation.

Auch hier geht es wiederum nicht darum, dass konkrete geopolitische Fragen diskutiert werden. Dass das Westjordanland, Ost-Jerusalem oder auch die Golan-Höhen von Israel besetztes Land sind, wird auch von der Bundesregierung so gesehen. Und dass es zusätzlich in den besetzten Gebieten extremistische Siedler:innen gibt, die mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen begehen, ist ebenfalls nicht zu bestreiten.

Auch generell über die Grenzen des Staats Israel z.B. im Westjordanland oder den Golanhöhen zu diskutieren, ist nicht dasselbe wie eine Delegitimierung. Diese liegt nur dann vor, wenn das Existenzrecht des Staats Israels selbst angefochten oder grundsätzlich abgelehnt wird.

Als Konsequenz der Dämonisierung und Delegitimierung des Staats Israel wird oft jeglicher Feind von Israel als “gut” geframed und unterstützt. Folge dieses falschen Dilemmas ist, dass selbst die islamistische Terrororganisation Hamas, die für die Ermordung und Vergewaltigung von mehr als 1.000 Menschen am 7. Oktober 2023 verantwortlich ist, relativiert, verteidigt oder sogar glorifiziert wird. In einem stark vereinfachten Freund-Feind-Schema reicht dann allein, dass die Hamas gegen Israel kämpft, um all ihre Gewalttaten zu entschuldigen.

Das rote “Hamas-Dreieck” ist wahrscheinlich das Hamas-Symbol, welches man in Deutschland am häufigsten sieht. Das könnte auch daran liegen, dass viele es entweder gar nicht kennen oder für ein harmloses Symbol halten, das eher eine allgemeine Solidarität mit Palästina ausdrückt, zum Beispiel indem es das rote Dreieck in der palästinensischen Flagge imitiert.

Tatsächlich zeigt das “Hamas-Dreieck” allerdings nach unten, nicht, wie in der Flagge, nach rechts. Außerdem ist auffällig, dass das Dreieck erst seit ca. November 2023 als “palästinensisches” Symbol interpretiert wird – also genau ab dem Zeitpunkt, als die Hamas begann, es zu nutzen. In den Jahrzehnten davor, in denen es auch schon palästinasolidarische Gruppen und Demonstrationen gab, wurde das Dreieck nicht genutzt.

In manchen Ego-Shootern werden feindliche Ziele mit roten Dreiecken markiert, um deutlich zu machen: Dieses Ziel muss ausgelöscht werden. Deswegen ist davon auszugehen, dass das Dreieck zumindest von der Hamas und anderen islamistischen Gruppen gezielt als Feindmarkierung genutzt wird. Westliche Aktivist:innen, die das Dreieck vielleicht aus Unwissenheit oder Naivität ebenfalls nutzen, tragen dazu bei, diese Feindmarkierungen zu normalisieren. Tatsächlich gibt es extrem viele Beispiele auch in Deutschland, in denen das Dreieck genutzt wurde, um “Feinde” zu markieren.

Neben dem Hamas-Dreieck werden auf sehr vielfältige Art und Weise Dämonisierung Israels oder sonstige Whataboutismen genutzt, um die Gewalt zu relativieren, entschuldigen oder sogar als scheinbaren “Befreiungskampf” zu glorifizieren. Dabei wird dann oft komplett außer Acht gelassen, wie es Frauen oder marginalisierten Gruppen unter der Hamas-Herrschaft geht. Im Folgenden einige Beispiele, die bei weitem nicht erschöpfend sind, aber aufzeigen sollten, in welcher Vielfalt die Hamas auf Demonstrationen relativiert und glorifiziert wird.

Ein weiteres Indiz der Radikalisierung antisemitischer Gruppierungen sind Angriffe auf die freie Berichterstattung und teils direkt auf Journalist:innen. Auch hiervon gäbe es so viele, dass in der folgenden Übersicht nur einige wenige Beispiele gesammelt sind.

Dass Antisemitismus eine Gefahr für die Demokratie ist – auf diese Tatsache können sich wahrscheinlich die meisten noch einigen. Doch wenn der Antisemitismus sich nicht mit Springerstiefel und Glatze zeigt, wird er oft nicht ausreichend erkannt und benannt. Dieser Artikel soll dazu beitragen, Bewusstsein dafür zu schaffen, wie akut das Problem ist. Es geht hier nicht mehr darum, eine Gefahr im Keim zu ersticken – Antisemitismus brennt bereits lichterloh durch unsere demokratische Gesellschaft.

Deswegen an dieser Stelle die Aufforderung an alle Demokrat:innen: Schweigt nicht, wenn ihr Antisemitismus beobachtet. Es ist nicht immer machbar, in jeder Situation direkt in die Konfrontation zu gehen. Aber ihr könnt immer Umstehende oder Bekannte aufklären oder euch bei Stellen wie RIAS melden. Es ist Aufgabe der Politik und des Verfassungsschutzes, Extremist:innen direkt zu bekämpfen. Doch um das Problem Antisemitismus anzugehen, brauchen wir demokratische Zivilcourage.

Artikelbild: Sascha Meyer/dpa

 

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