Der fünfte Jahrestag des antisemitischen Anschlags von Halle jährt sich am 9. Oktober, am 7. Oktober zum ersten Mal der Überfall der Terror-Miliz Hamas, bei welchem sie 1.170 Israelis und Menschen anderer Nationalitäten töteten. Monty Ott und Ruben Gerczikow über die Bedeutung jener Zwei Tage im Oktober.
Jeder jüdische Mensch in Deutschland hat die Botschaft des 9. Oktobers 2019 vernommen. Ein antisemitischer Massenmord war am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle an der Saale geplant. Auch wenn die Durchschlagskraft der Waffen in diesem Moment nicht ausreichte, die Tür zu durchbrechen, ist es mehr als zynisch, von einem Versagen der selbstgebauten Waffen zu sprechen. Dass sie funktionsfähig waren, bewies der rechtsterroristische Täter vor der Synagoge, als er die Passantin Jana Lange ermordete. Genauso, als er im nahegelegenen KiezDöner, den er aus rassistischen Motiven aufsuchte, Kevin Schwarze beim Mittagessen erschoss.
Am 8. Oktober 2023 sitzen wir in einem ICE, der sich seinen Weg quer durch Deutschland bahnt. Wir sind immer noch geschockt, versuchen das unverständliche Ausmaß zu verstehen. Wir sehen Bilder und Videos, die sich in unser Gedächtnis fressen werden. In den vergangenen Wochen hatten wir uns intensiv mit der Frage beschäftigt, was der vierte Jahrestag des Anschlags von Halle und Wiedersdorf bedeutet und was sich seitdem verändert hat. All diese Überlegungen wurden gebremst durch den sogenannten „Schwarzen Schabbat“ in Israel. An diesem wurde das Schutzversprechen des jüdischen Staates infrage gestellt.
Ein Versprechen, das die Bundesrepublik Deutschland ihren jüdischen Bürger*innen nach der Schoa, dem industriellen Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen*Juden, ebenfalls gegeben hat. Auch das deutsche Versprechen ist in Anbetracht der blutigen Kontinuität antisemitischen Terrors und des Anschlags an Jom Kippur 2019 in Halle endgültig in sich zusammengebrochen. Es sind zwei Tage im Oktober, die unsere Wahrnehmung verändert haben und für die nächsten Jahre prägen werden. Das hier ist der Versuch, ihre Verbindung besser zu verstehen.
Zu oft wird das Judentum lediglich als Religion bezeichnet. Das greift jedoch zu kurz. Ja, das Judentum ist Religion. Aber es ist auch Zivilisation, Kultur und das Judentum ist auch eine Schicksals- und Leidensgemeinschaft. Daran erinnern in jüngster Zeit die Zwei Tage im Oktober. Es sind zwei Ereignisse, die gerade die junge jüdische Generation hierzulande besonders als Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißen.
Mit Blick auf den 9. Oktober 2019 und den 7. Oktober 2023 sprechen wir von der Dialektik von Sicht- und Unsichtbarkeit. Der 7. Oktober 2023 – und seine Auswirkungen bis heute, wie die weiterhin ungefähr 100 im Gazastreifen verbliebenen Geiseln – hat Jüdinnen*Juden weltweit getroffen. Rund 1.200 Menschen wurden ermordet und Tausende verletzt. In Israel hat er ein nationales Trauma ausgelöst. Doch die Taten der palästinensisch-islamistischen Terrororganisation Hamas an diesem Tag reichten weit über die Grenzen des kleinen Mittelmeerstaates hinaus.
Die Art der Massaker und die Verbreitung des Videomaterials im Zuge psychologischer Kriegsführung der Hamas, haben eine „genozidale Botschaft“ gesendet, wie es der Historiker Dan Diner nannte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf rief die Terrororganisation am darauffolgenden Schabbat zu einem „Tag des Zorns“ auf, bei dem man auch jüdische Gemeinden ins Fadenkreuz nahm. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Terrororganisation Teil einer „Achse des Widerstands“ ist, die von der Islamischen Republik Iran gesteuert wird. Und dessen langer Arm bis nach Deutschland reicht, wie das Urteil dem Oberlandesgericht Düsseldorf in einem Prozess über einen Anschlagsversuch auf die Synagoge in Bochum 2022 noch einmal bestätigte.
Auch hier in Deutschland. Denn wir leben in dem Land, von dem einst die Schoa ausgegangen ist und in dem jüdisches Leben alles andere als selbstverständlich ist. Die Bedrohung durch Antisemitismus ist genauso offensichtlich, wie auch die Jahre der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber diesem. Lange Jahrzehnte gehörte es fest zum deutschen Selbstverständnis, eine „wiedergutgewordene“ Nation zu sein. Dazu passte es nicht, dass antisemitische Gewalt in Deutschland auch nach 1945 weiterhin stattfand. Erst gegen die Spuren der einstigen jüdischen Präsenz, wie Friedhöfe und Synagogen, die die Novemberpogrome 1938 überstanden haben. Und ebenso gegen die wenigen jüdischen Menschen, wie der Doppelmord in Erlangen an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 grausam unter Beweis stellte.
Das Verhältnis von 9. Oktober 2019 und 7. Oktober 2023 zueinander lässt sich nur verstehen, wenn man diese Geschichte kennt. Kollektive Geschichte existiert nicht einfach, sie wird gemacht.Das hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs eindrucksvoll dargelegt. Kollektive neigen dazu, Beschämendes zu verdrängen und bestimmte Ereignisse aufzuwerten, um eine gemeinsame Identität daraus abzuleiten. So nimmt in Deutschland die Zahl derjenigen zu, die einen Schlussstrich hinter die Geschichte der Schoa ziehen wollen oder sich gegenseitig Lügen über die vermeintlichen Widerstandsaktivitäten der eigenen Ahnen erzählen.
Der rechtsterroristische Anschlag am 9. Oktober nimmt im Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft keine herausragende Stellung ein, anders als z.B. die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ oder der rassistische Anschlag in Hanau 2020. Doch er wirkte sich besonders auf die junge jüdische Generation in Deutschland aus. Diese wurde laut und setzte ein selbstbestimmtes Zeichen gegen Ignoranz. Anders als im Nachkriegsdeutschland gab es nicht nur noch einzelne wenige mutige junge jüdische public figures, die sich lautstark zu Wort meldeten.
Bei der Arbeit zu unserem Anfang 2023 erschienenen Reportageband „‘Wir lassen uns nicht unterkriegen’ – Junge jüdische Politik in Deutschland“ zeigte sich, wie eine Vielzahl von Jüdinnen*Juden, darunter auch Überlebende des Anschlags, seit dem 9. Oktober 2019 das Licht der Öffentlichkeit gesucht haben und auf den unterschiedlichsten Wegen auf sich aufmerksam machten. Vor allem die sozialen Medien nahmen dafür eine wichtige Funktion ein: Auf Twitter, Instagram und TikTok sind junge Jüdinnen*Juden zu sehen, die ihre Perspektiven und ihren Alltag teilten. Eine Entwicklung, die auch dem Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ in die Karten spielte.
Dafür gab es diverse Motive: Sie taten das nicht wegen, sondern trotz des Antisemitismus. Sie taten das wegen der Ignoranz, die die Mehrheitsgesellschaft gegenüber ihrer Lebenswirklichkeit zeigte. Sie taten das wegen der Ignoranz, die ihre (Groß-)Eltern oder sie selbst als „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland erlebten, wegen der Ignoranz von Seiten der Politik gegenüber jüdischer Altersarmut und gegenüber der Tatsache, dass sie die Mehrheit des neuen Judentums in Deutschland bildeten – wie die Journalistin Erica Zingher eindrucksvoll in ihrem taz-Text „Was wächst auf Beton?“ berichtete.
Die jungen Jüdinnen*Juden gingen in die Öffentlichkeit, weil dieser Widerspruch kaum auszuhalten war. Politiker*innen sprachen davon, dass „jüdisches Leben“ ein „Geschenk“ für Deutschland sei. Ein Geschenk, um das man sich nicht schert. Dass die Lebenswirklichkeit vieler Jüdinnen*Juden oft von Mehrfachdiskriminierungen geprägt ist, ist vielen dieser Politiker*innen unbekannt. Während Deutschland so stolz auf die vermeintliche erfolgreiche „Aufarbeitung“ der Zeit des Nationalsozialismus war, wurde immer klarer, dass Jüdinnen*Juden dabei lediglich eine Rolle zugeschrieben wird: Die des passiven Opfers. Wenn wir über Zwei Tage im Oktober sprechen, dann müssen wir diese Umstände im Hinterkopf haben. Und wenn man über die Sicherheit der jüdischen Communitys hierzulande spricht, über den gesellschaftlichen Zusammenhalt, über den Zustand der Demokratie in Deutschland, dann führt kein Weg daran vorbei, sich auch mit der Dialektik von Sicht- und Unsichtbarkeit, von 9. Oktober 2019 und 7. Oktober 2023 zu beschäftigen.
Jüdische Sichtbarkeit war nie mit dem Gefühl von Sicherheit vereinbar. Doch hat sich in den letzten Jahren etwas bewegt. Die junge jüdische Generation zeigt stolz Flagge – auch die Flagge mit dem Davidstern. Das Licht der Öffentlichkeit ist nicht immer wärmend, aber den Anfeindungen zum Trotz war die Botschaft nach dem Anschlag in Halle: „Jetzt erst recht!“ Doch aus dem „Dagegen halten“ entwickelte sich in den letzten zwölf Monaten ein „Innehalten“. Die Social Media Profile wurden auf privat gestellt, die Davidsternkette verschwand unter dem T-Shirt, auf Hebräisch wird in der S-Bahn verzichtet. Die einst gepackten Koffer der ersten oder zweiten Generation wurden ausgepackt, doch inzwischen weiß auch die dritte Generation sehr genau, in welcher Ecke sie im Keller oder auf dem Dachboden stehen.
Artikelbild: Markus Klemm/dpa