So könnte der AfD-Wahlsieg Thüringen EU-Milliarden kosten

Autorin: Luise Quaritsch. Dieser Artikel erschien zuerst bei Verfassungsblog. Überschriften zur besseren Lesbarkeit teilweise ergänzt von Volksverpetzer.

In Deutschland wird die Regierungsbeteiligung einer rechtsextremen Partei zumindest auf Landesebene ein immer realistischeres Szenario: Die Thüringer AfD wurde bei der Landtagswahl am 1. September stärkste Kraft und konnte mehr als 32 Prozent der Stimmen gewinnen. Dass eine AfD-geführte Landesregierung gegen EU-Grundwerte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen würde, lässt sich aufgrund der Äußerungen ihrer SpitzenpolitikerInnen nicht ausschließen. In so einem Fall könnte die EU mit fast allen ihren Instrumenten auch gegen die autoritäre Regierung eines Bundeslandes vorgehen – selbst wenn sich die Bundesregierung weiter an EU-Recht hielte. Das Zurückhalten von EU-Fördergeldern wäre das effektivste Mittel der EU, um die Rechtstaatlichkeit auf regionaler Ebene zu schützen.

Die EU hat in den letzten Jahren eine Reihe an präventiven, korrektiven und budgetären Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten entwickelt. Die präventiven Instrumente dokumentieren Rechtsstaatlichkeitsrisiken in Mitgliedsstaaten und sollen Gelegenheit zum Dialog bieten. Die Dokumentation dient auch als objektive Grundlage zur Bewertung von Verstößen, auf die sich die Kommission berufen kann, wenn sie die korrektiven und budgetären Mechanismen anwendet. Korrektive Instrumente sehen konkrete Sanktionen für die Mitgliedsstaaten vor. Budgetäre Maßnahmen sollen sicherstellen, dass die Mitgliedsstaaten die Gelder aus dem EU-Haushalt rechtmäßig verwenden.

Zu den korrektiven Instrumenten zählt das Artikel 7-Verfahren, mit dem die Kommission Mitgliedsstaaten Rechte, die sich aus ihrer EU-Mitgliedschaft ergeben, entziehen kann. Für die Anwendung auf Rechtsstaatlichkeitsverstöße einer Landesregierung ist das Verfahren aber nicht geeignet, da sich die Sanktion dezidiert gegen nationale Regierungen richtet. Mit dem Vertragsverletzungsverfahren, über das Geldstrafen verhängt werden können, wäre es hingegen möglich, ein Bundesland zu sanktionieren.

Verstößt ein Mitgliedsstaat gegen EU-Recht, kann die Kommission gegen diesen Mitgliedsstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und 260 AEUV einleiten. Am Ende dieses Verfahrens kann der Europäische Gerichtshof (EuGH) feststellen, dass ein Mitgliedsstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstößt. Leistet der Mitgliedsstaat dem Urteil nicht Folge, kann die Kommission den EuGH erneut anrufen und finanzielle Sanktionen verhängen lassen. Grund für ein Verfahren kann sein, dass ein Mitgliedsstaat ein neues Gesetz nicht rechtzeitig oder nicht korrekt umsetzt. Aber auch eine Verletzung der Grundwerte der Union (Art. 2 EUV) kann in einzelnen Fällen Grund für ein Verfahren sein.

In Deutschland kann die Umsetzung von EU-Richtlinien sowohl in die Zuständigkeit des Bundes als auch die der Länder fallen, je nachdem, in wessen Kompetenzbereich die Maßnahme thematisch liegt (Art. 30 und 70 ff. Grundgesetz). Viele europäische Umweltrichtlinien werden beispielsweise hauptsächlich von den Bundesländern umgesetzt. Das Bundesstaatsprinzip aus Art. 20(1) Grundgesetz verpflichtet die Länder dazu, EU-Recht im Rahmen ihrer Zuständigkeit korrekt umzusetzen. Auch an die Grundwerte der EU, inklusive Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, müssen Bundesländer sich halten. Sollte die Regierung eines Bundeslandes diese Werte mit konkreten Maßnahmen verletzen, zum Beispiel durch ein neues Gesetz, das die Unabhängigkeit des Landesverfassungsgerichts gefährdet, könnte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland starten. Das ist möglich, auch wenn die Verletzung eigentlich einer regionalen Regierung zurechenbar ist. 2021 eröffnete die Kommission beispielsweise ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen einer potenziellen Verletzung des Rechts auf Nicht-Diskriminierung auf EU-Ebene, da sich einige Regionen in Polen als „LGBTI-freie Zonen“ deklariert hatten.

Falls der EuGH dann eine Vertragsverletzung feststellt und das Urteil keine Wirkung zeigt, könnte er in einem weiteren Urteil Deutschland mit einer Finanzsanktion belegen. Eine solche Strafzahlung müsste dann gemäß Art. 104a (6) Grundgesetz in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Lastentragungsgesetz das Bundesland zahlen, das für die Strafe verantwortlich ist. Weigert sich das Land, die Finanzsanktion zu übernehmen, kann der Bund nach § 387 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Sanktion gegen Ansprüche des Landes aufrechnen.

Präzedenzfälle gibt es für dieses Vorgehen in Deutschland bisher nicht. Ein Nachteil des Verfahrens für das beschriebene Szenario wäre, dass ein Vertragsverletzungsverfahren durchschnittlich zwei Jahre dauert. Bei der nur fünfjährigen Amtszeit einer Landesregierung in Thüringen könnte das Verfahren einen großen Teil einer Legislaturperiode andauern, bis eine Entscheidung fällt. Außerdem liegt es im Ermessensspielraum der Kommission, den EuGH anzurufen. Das müsste sie gleich zweimal tun – und Deutschland müsste zweimal verurteilt werden – bis es zu finanziellen Sanktionen kommt.

Die EU hat das Recht, Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Mitgliedsstaaten vor Korruption und Rechtsstaatlichkeitsbrüchen zu schützen. Damit die Kommission Maßnahmen zum Schutz von EU-Geldern ergreifen kann, muss es eine ausreichend direkte Verbindung zwischen einem Rechtsstaatlichkeitsverstoß und dem EU-Haushalt geben. Das heißt, dass ein Verstoß auch tatsächlich Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern haben muss, damit die Kommission aktiv werden kann. Um auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche in einzelnen Bundesländern zu reagieren, kann die EU ihre Instrumente also nur auf die EU-Gelder anwenden, die auch auf Landesebene verwaltet werden. Das ist in erster Linie bei den europäischen Strukturfonds der Fall, die wegen der föderalen Struktur in Deutschland größtenteils von den Bundesländern umgesetzt werden. Strukturfonds sollen den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU stärken.

Im Förderzeitraum von 2021 bis 2027 erhält das Land Thüringen insgesamt über 1,5 Milliarden Euro aus Strukturfonds. Die meiste Förderung kommt aus dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung (EFRE, 1088 Millionen Euro) und den Europäischen Sozialfonds (ESF+, 466 Millionen Euro). Mit weiteren 90 Millionen aus der Ausbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas (React-EU) wurde die Strukturförderung 2021 und 2022 aufgestockt. Mit den Geldern werden ganz unterschiedliche Projekte finanziert: von Hochwasserschutz in Eisenach über ein neues MRT-Gerät für das Universitätsklinikum Jena bis hin zu Energieeffizienzmaßnahmen bei der Stadtmühlenbäckerei in Bad Blankenburg.

Grundsätzlich gilt die Konditionalitätsverordnung, auch Rechtsstaatsmechanismus genannt, für alle EU-Gelder und ist auch auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche auf regionaler Ebene anwendbar – „staatliche Einrichtungen“ werden in Art. 2 der Konditionalitätsverordnung explizit als Behörden auf allen Regierungsebenen definiert. Im Fall von Thüringen wären solche Rechtsstaatlichkeitsverletzungen relevant, die direkte negative Konsequenzen auf die Verwendung von Strukturfondsgeldern hätten. Art. 4(2) der Konditionalitätsverordnung zählt auf, was so einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit darstellen kann, insbesondere Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, Mängel im Justizsystem und bei der Korruptionsprävention. In Ungarn kritisierte die Kommission beispielsweise, dass zu viel Macht bei der Generalstaatsanwaltschaft konzentriert und damit eine effektive Strafverfolgung gefährdet sei.

Gemäß Art. 6(1) kann die Verordnung aber erst angewendet werden, wenn andere Prozesse das EU-Budget nicht effektiver schützen. Deshalb sind zuerst die gemeinsamen Bestimmungen für Strukturfonds aus der Verordnung 2021/1060 (kurz: Dachverordnung) relevant, die die finanziellen Interessen der EU ebenfalls schützen sollen.

Eine erste Möglichkeit, auf Rechtsstaatsverletzungen auf regionaler Ebene zu reagieren, hat die Kommission im Rahmen der Dachverordnung bei der Genehmigung der Programme für die Umsetzung der europäischen Strukturfonds. Hier schlagen die zuständigen regionalen Behörden ein operationelles Programm vor, dem die Kommission zustimmen muss. Bei dieser Genehmigung prüft die Kommission, ob das Programm die Anforderungen der Dachverordnung erfüllt. Das beinhaltet auch „bereichsübergreifende Grundsätze“ wie die Einhaltung der EU-Grundrechtecharta beim „Einsatz der Fonds“ und die Geschlechtergleichstellung bei der gesamten Vorbereitung und Durchführung der Programme (Art. 9 Dachverordnung). Gleiches gilt für Änderungen der Programme (Art. 24 Dachverordnung).

Auf diese Möglichkeit berief sich die Kommission im Falle der polnischen Anti-LGBTI Regionen im September 2021 und genehmigte eine Änderung der regionalen Umsetzung des REACT-EU Programms nicht, weil sie den Grundsatz der Nichtdiskriminierung möglicherweise verletzte. Die polnischen Regionen zogen daraufhin ihre Resolutionen zurück, weshalb der Fall geschlossen wurde. Theoretisch hätte die Kommission aber sonst die Möglichkeit, das Programm ganz abzulehnen (Art. 23(4) Dachverordnung).

In Thüringen ist das EFRE-Programm mit 1,1 Milliarden Euro zwischen 2021 und 2027 aktuell der größte Strukturfonds. Das Programm für diese Förderperiode genehmigte die Kommission 2022 und wird vom Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft verwaltet. Die Gelegenheit, sich bei der Genehmigung auf Art. 23 der Dachverordnung zu berufen, käme für die Kommission also wahrscheinlich erst 2028 oder 2029 wieder. Die Möglichkeit, bei Änderungsanträgen Druck auszuüben, könnte sich hingegen häufiger ergeben, da die Förderperioden sehr lang sind und beispielsweise veränderte wirtschaftliche Bedingungen Änderungen notwendig machen können.

Auch bei der Auszahlung der Strukturgelder hat die Kommission eine Möglichkeit, auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche zu reagieren. Mitgliedsstaaten bzw. Verwaltungsbehörden müssen sicherstellen, dass sogenannte „zielübergreifende grundlegende Voraussetzungen“ (Art. 15 Dachverordnung) in der Umsetzung der Programme dauerhaft erfüllt sind. Dazu gehören die Einhaltung der EU-Grundrechtecharta und der UN-Behindertenrechtskommission, inklusive Nichtdiskriminierung (zu möglichen Diskriminierungsszenarien siehe hier), Gleichheit von Frauen und Männern und wirksamer Rechtsschutz und Umweltschutz. Mitgliedsstaaten bzw. Verwaltungsbehörden müssen sicherstellen, dass diese grundlegenden Voraussetzungen in der Umsetzung der Programme dauerhaft erfüllt sind. Wird eine Voraussetzung nicht erfüllt, erstattet die Kommission die Ausgaben nicht, die mit der Voraussetzung verbunden sind.

Die Kommission hat sich bereits in Zusammenhang mit einer Reihe von Grundrechtsverletzungen auf dieses Instrument berufen, unter anderem bei Verstößen gegen die Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit, um Gelder für Ungarn nicht auszuzahlen. Sie könnte also über die Dachverordnung die Auszahlung von Strukturgeldern stoppen, um auf verschiedene Rechtsstaatlichkeitsverstöße in Thüringen zu reagieren.

Wie schmerzhaft wäre es für eine Thüringer Landesregierung, auf EU-Gelder und insbesondere auf die Strukturfonds verzichten zu müssen? Für die Jahre 2023 bis 2027 liegen die geplanten Investitionsausgaben des Landes bei jeweils knapp über 2 Milliarden Euro. Diese Ausgaben setzen sich aus Mitteln des Landes, des Bundes und der EU zusammen. Zwischen 2023 und 2027 kommen von den geplanten Ausgaben jedes Jahr zwischen 394 und 485 Millionen Euro aus allen EU-Programmen. Mit durchschnittlich etwa 300 Millionen pro Jahr machen die Strukturfonds damit etwa 15 Prozent der gesamten Investitionsausgaben aus. Für Thüringen wären das erhebliche Mittel, der Wegfall dieser Regional- und Wirtschaftsförderung könnte das Land empfindlich treffen und negativ auf die Landesregierung zurückfallen.

Dass es Wirkung zeigen kann, den Wegfall von EU-Fördergeldern auf regionaler Ebene anzudrohen, beweist das Beispiel Polens: Um den Verlust von EU-Mitteln in Milliardenhöhe zu vermeiden, zogen viele Regionen ihre Anti-LGBTI Resolutionen zurück. Eine ersetzte sie sogar mit einer Anti-Diskriminierungs-Resolution.

Die EU könnte mit den bereits existierenden Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten bei Rechtsstaatlichkeitsverstöße auf regionaler Ebene einschreiten. Am effektivsten wären die budgetären Maßnahmen, mit der die Kommission Gelder aus Strukturfonds, die von den Bundesländern verwaltet werden, zurückhalten könnte. Diese Instrumente sind recht unkompliziert, direkt auf Regionen anwendbar und können eine Reihe von Grundrechtsverletzungen abdecken. So könnte die Kommission verhindern, dass Regierungen und Projekte, die den Grundwerten der Union entgegenwirken, mit EU Geldern unterstützt werden. Für viele Regionen in Europa sind die Strukturfonds von erheblicher finanzieller Relevanz, weshalb sie ein wirksames Mittel sein könnten, um Druck auf regionale Regierungen auszuüben.

Letztendlich verhält es sich auf regionaler Ebene aber ebenso wie auf nationaler Ebene: EU-Rechtstaatlichkeitsinstrumente sind nur so effektiv, wie sie auch genutzt werden. In ihren Politischen Leitlinien schreibt Ursula von der Leyen, dass die Kommission ihre budgetären Instrumente in der nächsten Legislaturperiode weiter anwenden und stärken will. Sollte in Thüringen also eine rechtsextreme Landesregierung gegen die Grundwerte der Union verstoßen, könnte sie in einen ernsthaften Konflikt mit der Kommission geraten und so Milliarden an Fördergelder gefährden, die derzeit von der EU kommen. Ob letztendlich Gelder gestrichen würden, wäre dann eine Entscheidung der Kommission. Die Möglichkeiten dazu hätte sie.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.deCC BY-SA 4.0. Überschriften ergänzt durch Volksverpetzer. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.

Artikelbild: canva.com/wikipedia.org

 

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