Eine Schlägerei zwischen englischen und serbischen Fußball-Fans am Rande des EM-Spiels ihrer Nationen sorgte für Schlagzeilen. Nicht nur wegen der Gewalt selbst – sondern auch, weil Julian Reichelt die Falschinformation verbreitete, es seien auch albanische Fans beteiligt gewesen. Das war schlicht gelogen und diente mutmaßlich auch dazu, Ressentiments gegen Südosteuropäer*innen zu schüren. Dabei wäre es gerade hier wichtig, genau hinzuschauen. Denn die realen Konflikte zwischen Serbien und Albanien gehen nicht einfach nur von ein paar wütenden Fußball-Fans aus – sie sind tief verwurzelt im Nationalismus.
Am Gelsenkirchener Bahnhof herrschte Ausnahmezustand. Allerdings nicht wegen Fangewalt, sondern weil die Transportinfrastruktur unter dem Andrang der Fans zusammenbrach. Diese reisten, ganz nachhaltig, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an. Darauf schien die Stadt allerdings nicht vorbereitet gewesen zu sein. Viele Engländer teilten wütend Videos von komplett überfüllten Bahnen. Die Fanlager wurden in der Stadt weitestgehend voneinander getrennt, weshalb es nur zu einigen wenigen Scharmützeln kam.
Dennoch war die EM-Partie zwischen Serbien und England bereits im Vorfeld als Hochsicherheitsspiel eingestuft worden. Für die Fans beider Länder hieß es von Beginn an, sich auf eine stärkere Polizeipräsenz als beim Revierderby zwischen dem FC Schalke 04 und Borussia Dortmund sowie auf alkoholreduziertes Bier im Stadion einzustellen. Zu groß war die Angst vor einem Aufeinandertreffen zwischen englischen und serbischen Hooligans. Selbst im Stadioninneren war die Anwesenheit der Polizei massiv.
Die Sicherheitsvorkehrungen konnten allerdings nicht viel daran ändern, dass trotzdem schnell die ersten Videos aus der Gelsenkirchener Innenstadt viral gingen. Die Videos zeigen Schlägereien auf offener Straße, Gegenstände, die durch die Luft fliegen und Männer, die vor der herbei eilenden Polizei flüchten. Also alles wie vorhergesagt? Nicht unbedingt, wenn man dem ehemaligen BILD-Chefredakteur Julian Reichelt und seinem Onlinemedium „NIUS“ Glauben schenkt. So titelte er fünf Stunden vor Spielbeginn: „Vermummte Albaner greifen England-Fans und Serben an.“
Und Reichelt war mit seiner vermeintlichen Schlagzeile nicht alleine. Auch sämtliche Hooligan-Channels auf Telegram, der Twitter-Account „Visegrád 24“ (über eine Million Follower) oder AfD-nahe Accounts verbreiteten diese Information. Reichelt kommentierte zwar im Nachgang, dass es sich eventuell doch auch um englische Fans handeln könnte, aber die Stoßrichtung war gesetzt. Ein „fremder“ Konflikt, der gewalttätig auf deutschen Straßen ausgetragen wird und unsere Politik versagt. Der Journalist Chaled Nahar sorgte eine Stunde vor Anpfiff für Klarheit, dass die Polizei Gelsenkirchen den Berichten widersprach und keine albanischen Fans an den Auseinandersetzungen beteiligt gewesen sind.
Die Schlagzeile klang für Julian Reichel wohl einfach zu gut, da er zum Einen ausländische Krawalle in Deutschland thematisieren konnte sowie Ressentiments gegen Südosteuropäer*innen schüren und zum Anderen fehlende Sicherheitskonzepte unterstellen konnte. Dabei ist Gewalt beim Fußball historisch gewachsen. Aber viel wichtiger ist das tatsächliche Problem, womit er mit seiner Skandalisierung davon ablenkt: Nationalismus vom Balkan.
Es war aller Voraussicht nach ein organisierter Angriff englischer Fans auf serbische Fans. Dabei wurden laut Polizei Gelsenkirchen sieben serbische Staatsangehörige in Gewahrsam genommen. Videoaufnahmen zeigen, dass sich auch Danilo Vučić, der Sohn des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, an den Ausschreitungen beteiligen wollte. Er wurde jedoch von seinen Bodyguards zurückgehalten. Die Familie Vučić pflegt enge Beziehungen zu serbisch-nationalistischen Hooligans. So war Sohn Danilo bereits 2018 mit verurteilten Hooligans bei der Weltmeisterschaft in Russland. Und sein Vater war früher Teil der Szene von Roter Stern Belgrad. Und Hooligans von Partizan mit Verbindungen in die organisierte Kriminalität sollen für Vučić politisch genehme Proteste unterstützt und oppositionelle Demonstrationen gestört haben.
Dass es im Rahmen eines EM-Spiels mit Beteiligung einer Nation vom Balkan zu solchen Szenen gekommen ist, ist für Krsto Lazarević nicht überraschend. Er ist in Bosnien und Herzegowina geboren und floh als Kind mit seiner Familie nach Deutschland. Gemeinsam mit dem Journalisten Danijel Majić betreibt er den Podcast „Neues vom Ballaballa-Balkan“. Er sagt:
„Mich hätte es überrascht, wenn es bei Spielen mit Balkanbezug nicht zu Ausschreitungen gekommen wäre. Die Bilder aus Gelsenkirchen waren krass, aber noch weit unter dem, was passieren kann.“
Die enge Verbindung zwischen Fußball und nationaler Identität lässt sich dieser Tage auch auf deutscher Seite wieder ziemlich eindrücklich beobachten. Lazarević sieht den Fußball auch als konstitutiv für den Nationalismus auf dem Balkan:
„Bis heute behaupten manche, dass der Krieg am 13. Mai 1990 im Zagreber Maksimir-Stadion beim Spiel zwischen Dinamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad begonnen hat, bei dem es zu Ausschreitungen kam. Das ist natürlich übertrieben, aber gerade für Kroatien ist der Fußball sehr zentral für die nationale Identität. In Serbien wiederum wurden in den 1990er Jahren bei Fangruppen für Paramilitärs angeworben – viele von ihnen haben schwere Kriegsverbrechen begangen.“
Nicht nur das Aufeinandertreffen englischer und serbischer Fans überschattete das zweite Spiel der Gruppe C. Auch auf dem Fanfest und im Stadion sorgten serbische Fans für unschöne Bilder. Vor dem Spiel wurde eine albanische Fahne verbrannt, im Stadion wurde mehrere Banner mit der Aufschrift „Nema predaje“ („Keine Kapitaluation“) und den Umrissen Kosovos in serbischer Fahne gezeigt sowie die Freundschaft zu Russland mit der russischen Flagge unterstrichen.
Die Feindschaft zwischen Serbien und Albanien geht mitunter auf den Kosovo-Krieg 1998 zurück. Davor gehörte das Kosovo mit seiner mehrheitlich albanischen Bevölkerung zu Jugoslawien, später zu Serbien und seit 2008 ist es ein unabhängiger Staat, der von Serbien jedoch nicht anerkannt wird. Da das Kosovo jedoch Mitglied des europäischen Fußballverbandes UEFA ist, wünscht sich Krsto Lazarević, dass die UEFA entsprechend handelt, wenn im Stadion die Existenzberechtigung eines Mitglieds negiert wird.
So ist es zu erklären, dass nicht nur im serbischen Fanblock nationalistische Symbole gezeigt wurden. Auch im Vorfeld und beim ersten Spiel der kroatischen Nationalmannschaft kam es zu mehreren Vorfällen. So huldigten kroatische Fans dem verurteilten Kriegsverbrecher Slobodan Praljak, trugen das Wappen der HOS-Miliz, die sich in der Tradition der Nazi-Kollaborateure der Ustascha sieht oder trugen ein T-Shirt mit dem Konterfei des Ustascha-Anhängers Frane Tente.
Trotz der schönen Bilder von italienischen und albanischen Fans äußerte sich auch in Dortmund der Nationalismus des Balkans. So wurde u.a. die Flagge Großalbaniens gezeigt. Dazu gehören Teile Griechenlands, Nordmazedoniens, Serbiens, Montenegros sowie das gesamte Kosovo. Die gleiche Fahne sorgte vor zehn Jahren beim EM-Qualifikationsspiel zwischen Serbien und Albanien in Belgrad für einen Spielabbruch. Damals flog eine Drohne, an der die Flagge „Großalbaniens“ befestigt war, in das Stadion. Es kam zu Tätlichkeiten zwischen den gegnerischen Spielern sowie den Heimfans. Darüber hinaus war das Wappen der albanisch-paramilitärischen UÇK („Befreiungsarmee des Kosovos“) im Westfalenstadion präsent. Beispielsweise als Fahne oder als Abzeichen auf einer Militäruniform.
Zwar hat die UEFA inzwischen Disziplinarverfahren gegen den albanischen und den serbischen Fußballverband u.a. wegen der Verbreitung einer provokativen Botschaft eingeleitet. Nichtsdestotrotz sieht Krsto Lazarević Handlungsbedarf: „Man muss von der UEFA verlangen, dass alle Symbole verboten sind, die sich positiv auf faschistische und ultranationalistische Ideologien beziehen. Auch die Glorifizierung von Kriegsverbrechern muss unterbunden werden. Kompliziert wird es dort, wo die Grenzen zwischen patriotischem Fahnenmeer und hartem Nationalismus fließend sind.“
Noch haben Serbien, Kroatien und Albanien mindestens zwei Spiele in diesem Turnier (die beiden Letztgenannten spielen gegeneinander, während dieser Artikel entsteht). Die UEFA hat jetzt die Möglichkeit, entsprechend nachzujustieren. Das wird zwar Gewalt beim Fußball nicht verhindern, da es diese mit und ohne Hooligan-Gruppen gab und gibt. Es könnten aber zumindest nationalistische Provokationen, die die Opfer der Jugoslawienkriege relativieren oder verhöhnen, verhindert werden. Nichtsdestotrotz gilt es, wie in vielen undurchsichtigen Situationen, nicht voreilige Schlüsse zu ziehen, durch falsche Informationen rassistische Ressentiments zu schüren und Erkenntnisse abzuwarten.
Artikelbild: twitter.com