Wie „Stern“ auf Väterrechtler-Propaganda hereinfiel

Der Bremer Psychologe Stefan Rücker ist einer der wichtigsten Lobbyisten der Väterrechtsbewegung. In seinen Veröffentlichungen hantiert er immer wieder mit dem umstrittenen und unwissenschaftlichen Begriff der „Eltern-Kind-Entfremdung“, laut dem angeblich ein Elternteil, meist der Vater, vom anderen Elternteil, meist der Mutter, bei den Kindern in Trennungsfamilien vorsätzlich schlecht gemacht wird, um Vorteile in Auseinandersetzungen vor Familiengerichten zu erzielen. Jetzt wurde Rücker zum Stichwortgeber einer Titelgeschichte des Magazins „Stern“ über Trennungskinder. Sie ist illustriert mit einem Mädchen, an dem beide Eltern zerren.

Völlig verzerrt ist tatsächlich etwas – der Beitrag des Redakteurs Tobias Schmitz selbst. Denn neben Rücker, der lang und breit zitiert wird, kommen in der 12-Seiten-Geschichte fast ausschließlich weitere Stimmen zu Wort, die bloß die These des Magazins stärken sollen. Die lautet, dass pro Jahr mindestens 250.000 jungen Menschen in Deutschland, die eine Trennung ihrer Eltern erlebten, „immense Langzeitfolgen“ drohen würden.

Nur ganz am Rande kommen in der „Stern“-Story die immensen Folgen für die vielen Kinder vor, die in toxischen Beziehungen lebten oder leben und die dennoch auch nach häuslicher Gewalt oder Missbrauch von den Institutionen – Jugendämtern oder Gerichten – zum Umgang mit beiden Elternteilen gezwungen werden.

Einseitiger geht es in der aufgeladenen Debatte um Umgangs- und Sorgerecht wohl kaum. Eine österreichische Übersichtsarbeit, eine Untersuchung der Universität Bergen, eine schwedische Studie, eine Psychologie-Professorin aus Esslingen, ein Arzt aus München, eine Bremer Neurobiologin – alle diese Quellen werden vom „Stern“ herangezogen, um entsprechend des Spins die düsteren Aussichten für Kinder aus Trennungsfamilien zu beschreiben. Von „längerfristigen Verhaltensauffälligkeiten“ ist die Rede, von Depressionen oder Angststörungen, von Problemen mit Alkohol und Drogen. Kindern von Alleinerziehenden würden psychosomatische Beschwerden drohen, heißt es. Als mögliche Folgen vorausgesagt werden außerdem Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopf- und Bauchweh, Traurigkeit oder Appetitmangel.

Geschildert wird so im „Stern“ für viele Trennungskinder das exakte Gegenteil einer glücklichen Kindheit. Das Elend ist dem Beitrag zufolge auch dann nicht vorbei, wenn Kinder aus Trennungsfamilien einmal erwachsen sind: Dann kann es zur verminderten Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin kommen, wird eine Expertin zitiert – es drohten dann ein emotionaler Rückzug und die verminderte Fähigkeit, neue Beziehungen einzugehen.

„Stern“-Autor Schmitz fasst zusammen: „Eine Trennung kann ein Trauma sein.“ Einen Halbsatz übrig hat er für Fälle, in denen die Aufkündigung einer Eltern-Beziehung für Kinder doch etwas Gutes haben könnte. Demnach könne eine Trennung „auch, etwa bei Gewalterfahrungen, Depressionen oder Süchten, ein rettendes Floß (sein), das Kinder aus einem Meer von Unglück und Ängsten in sichere Häfen trägt“. Über sehr weite Strecken vermittelt die „Stern“-Titelgeschichte den Eindruck, als habe sie Stefan Rücker, selbsternannter „Experte für Kindeswohl und Umgangsrecht“, diktiert. Dabei greift dieser Mann auch auf das Mittel der Amtsanmaßung zurück.

Der Psychologe wird im „Stern“ vorgestellt als Leiter einer Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen – eine Funktion, die er jedoch seit vielen Jahren gar nicht mehr hat. „Ich kann bestätigen, dass Herr Rücker nicht an der Universität Bremen arbeitet“, sagt die Leiterin der Hochschulkommunikation, Kristina Logemann, auf Anfrage. „Herrn Rücker haben wir aufgefordert, diese Angaben in der Öffentlichkeit und auf seiner Homepage korrekt zu formulieren.“ „Stern“-Redakteur Schmitz gibt zu, die Formulierung sei missverständlich, „den Fehler haben wir gemacht“. Er werde in der kommenden Ausgabe des Magazins korrigiert.

Tatsächlich hatte Rücker zusammen mit seinem Doktorvater, dem Bremer Prof. Franz Petermann, seit 2015 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums an einer Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ gearbeitet. Petermann starb 2019. Nach seinem Tod wurde sein Zentrum für klinische Psychologie und Rehabilitation und auch das dortige Team durch die Universität Bremen aufgelöst, wie es im Vorwort der Studie zum „Wohlergehen von Kindern in Trennungsfamilien“ heißt, die mit jahrelanger Verzögerung 2023 veröffentlicht wurde.

Wer heute an [email protected] schreibt, bekommt die Information „Die Adresse wurde nicht gefunden“. Die dazugehörige Internetseite www.kindeswohl-umgangsrecht.de wird inzwischen umgeleitet auf eine andere Adresse, in der es unter anderem um Ideen zur Einrichtung eines Kinderzimmers, Geschenke zur Geburt oder Rollenspiele in Beziehungen geht.

Rücker stellt es auf Anfrage des Volksverpetzers so dar, als bestehe die Arbeitsgruppe noch, „nur nicht mehr unter der Regie der Universität Bremen“. Das 2015 entstandene Gremium leiste aktuell „Restarbeiten“ zu der nach seiner Darstellung „unsäglichen“ Studie des Familienministeriums, „im Anschluss wird sich diese Gruppe auflösen“. Zur Zusammensetzung des Gremiums verweigert Rücker die Auskunft. Den Kontext zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit behauptet er trotzdem noch immer, obwohl ihn die Universität Bremen zur Unterlassung aufgefordert hat: In der Signatur seiner E-Mails steht bis heute „Leitung Arbeitsgruppe Kindeswohl, Universität Bremen“.

Rücker hat 2023 aus seiner Beratungsfirma eine GmbH gemacht, er selbst ist Geschäftsführer – und das Geschäft ist offenbar lukrativ. Zugleich ist der Psychologe aus Bremen Ratgeber, Unterstützer und Vortragsreisender für verschiedene Verbände in der Väterrechtler-Szene, zum Beispiel den Väteraufbruch für Kinder (VafK), Eltern für Kinder im Revier, „Papa Mama Auch“ oder die Initiative „Elternlieben“. Auch an der vom VafK initiierten tränenreichen Plakat-Kampagne „Genug Tränen“ wirkte er mit. Viele dieser Initiativen werden in der Recherche „Väterrechtler auf dem Vormarsch“ genannt, die 2023 Correctiv veröffentlichte. In ihr wird beschrieben, wie die Szene Einfluss in Politik und Justiz geltend macht und der Gewaltschutz von Frauen und Kindern untergraben wird. Durchaus immer wieder mit Erfolg.

Jetzt ging der „Stern“ den Netzwerken der Väterrechtler auf den Leim. Ein Schlüsselbegriff in deren Argumentation ist die „Eltern-Kind-Entfremdung“, zuweilen auch „Bindungsintoleranz“ genannt. Nach Rückers Darstellung ist sie ein „Risikofaktor für emotionalen Kindesmissbrauch“.

2020 gab Rücker dem MDR-Fernsehen ein längeres Interview zum Thema. Der Sender beschrieb die fatalen Folgen für Kinder anschließend in einem Facebook-Posting so ähnlich wie jetzt der „Stern“: „Nach einer Trennung beeinflusst ein Elternteil das Kind so, dass es das andere Elternteil nicht mehr sehen will. Das kann das Kind schädigen. Mögliche Folgen: Angst, Frustration und Wut, später sogar Drogenabhängigkeit und Suizidversuche.“

Rücker wurde damals vom MDR mit dem Satz zitiert, Eltern-Kind-Entfremdung sei „Kindesmisshandlung und für mich ein Verbrechen an der seelischen Entwicklung von jungen, orientierungsbedürftigen Menschen“. Er sagte weiter: „Es ist sogar schlimmer als körperliche Verletzungen, weil die heilen.“

Nun können körperliche Verletzungen womöglich tatsächlich heilen, die seelischen Folgen aber bleiben oft ein Leben lang. Die Buchautorin Christina Mundlos („Mütter klagen an“) warf Rücker auf Facebook unter Bezug auf sein MDR-Interview vor, er verharmlose körperliche Gewalt: „Damit ist mehr gesagt als dieser Psychologe vermutlich zugeben wollte.

Nämlich dass Kinder oft den Kontakt zu gewalttätigen und prügelnden Vätern meiden. Und er der Ansicht ist, dass Kontakt zu einem gewalttätigen Vater besser für das Kind sei als gar kein Kontakt zum Vater.“ Sie fragte: „Wo gräbt der MDR ,Experten‘ aus, die patriarchale Frauenhasser und -hetzer sind und an meiner Uni nicht mal das Grundstudium in Psychologie mit ihren ideologischen und frauenfeindlichen Wirklichkeitsverdrehungen geschafft hätten?“

Rücker aber hat sich mit seiner Mission gegen eine vermeintliche „Eltern-Kind-Entfremdung“ festgelegt auf den Begriff, den die Bundesregierung „wissenschaftlich nicht unumstritten“ nennt, wie sie 2023 in der Antwort auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut erklärte. In einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023 (1 BvR 1076/23) wird das Konzept der sogenannten Eltern-Kind-Entfremdung als „überkommen“ bezeichnet, es gelte „fachwissenschaftlich als widerlegt“. In dem Beschluss hieß es, das angeführte Konzept „genügt als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung nicht“.

Die Liste der Kritiker:innen am Schlagwort „Eltern-Kind-Entfremdung“ ist lang. Schon 2022 ordnete die Expert:innengruppe Grevio, die sich mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention des Europarats befasst, den Begriff als pseudowissenschaftlich ein: „Alle einschlägigen Fachleute“, etwa in der Justiz und auch Jugendämtern oder auch Psycholog:innen, sollten sich „der fehlenden wissenschaftlichen Grundlage für Begriffe wie der sogenannten elterlichen Entfremdung oder ähnlicher Konzepte bewusst“ sein, erklärte Grevio. Wenn über Umgangsrechte entschieden werde, seien die Sicherheitsbelange von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, und ihrer Kinder systematisch zu berücksichtigen.

2023 ging auch die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, auf Distanz zum Missbrauch des Begriffs. Anschuldigungen gegen einen Elternteil, er würde seine Kinder dem anderen Elternteil entfremden, seien eine absichtliche Taktik mit dem Ziel, die im familiären Haushalt herrschende Gewalt mit anderen Mitteln fortzuführen, wiederum in der Regel zu Lasten von Müttern und Kindern. Als höchst beunruhigend benannte Alsalem, dass Familiengerichte immer wieder vorsätzlich anordnen würden, dass Kinder zu einem misshandelnden Elternteil zurückzubringen seien, selbst wenn es glaubwürdige Beweise für Gewalt gebe und nur deshalb, weil der Kontakt zu diesem Elternteil als wichtiger erachtet werde als alle anderen Überlegungen. „Wie können Familiengerichte Schauplatz solch ungeheuerlicher Formen von Gewalt gegen Mütter und Kinder sein?“, fragte die UN-Sonderberichterstatterin empört.

Der Ehrenvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, schrieb in einem im April veröffentlichten Thesenpapier, insbesondere Müttern, die – von Gewalt betroffen – Probleme damit hätten, ihr Kind dem Beschuldigten zu Umgängen zu unterlassen, werde oft, zu oft, eine sogenannte Bindungsintoleranz oder Eltern-Kind-Entfremdung unterstellt und mit einem Entzug der elterlichen Sorge gedroht. Becker warnte vor „Umgangsexperimenten“. Wer schlage, sei bindungsintolerant – und nicht das Opfer.

Die Vorsitzende der Mütterinitiative für Alleinerziehende (Die Mias), Eleni Andrianopulu, kritisiert Rücker als Vertreter einer „Pseudotheorie“. Hinter dieser Theorie stehe der „Mythos der bösen, rachsüchtigen und hintertreibenden Frau, die dem Mann schaden will“, sagte sie dem Volksverpetzer. „Dieser innewohnende frauenfeindliche Reflex führt für Frauen und Kinder seit Jahren in Gerichtssälen zu Unsichtbarmachung von Gewalt und zu teils menschenrechtsverletzenden Entscheidungen.“

Doch von all diesen Diskussionen ist in der „Stern“-Titelgeschichte über Trennungskinder nichts zu lesen. Und Rücker wird auch nicht eingeordnet in seiner besonderen Funktion als Aktivist in der Väterrechtler-Szene. Ein bemerkenswertes Manko, das die Redaktion aber nicht sehen möchte.

Im „Stern“ darf der Psychologe seine Erzählung, dass ein Kind grundsätzlich beide Eltern brauche, fortschreiben: „Noch immer fehlt es vielerorts an Richtern, die sich fortgebildet haben, die auf dem Stand der Wissenschaft sind, die sich etwa auskennen in Bindungsforschung.“ Und: „Wir konnten zeigen, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität und auch die persönliche Zufriedenheit von Trennungs- und Scheidungskindern dort am höchsten ist, wo eben ausreichend Kontakt zu Mutter und Vater besteht.“

Den „Stern“ hat Rücker damit offenkundig überzeugt. Tobias Schmitz schreibt in seiner Reportage: „Klinkt sich einer aus der gemeinsamen Verantwortung für das Wohl des Kindes aus, so wird es oft hässlich: Dann werden Kinder instrumentalisiert, dann spricht ein Partner vor dem Kind abwertend über den anderen.“ Das Kind müsse „hilflos zusehen, wie sich die Eltern bekriegen“. Auf Instagram bewirbt der „Stern“ seine Story mit einem Reklametext zum Wechselmodell „Eine Woche Mama, eine Woche Papa“, das besser sei als sein Ruf: „Nur wenige Trennungskinder leben abwechselnd bei Vater und Mutter. Dabei bringt das Hin und Her auch Vorteile, wie neue Studien zeigen.“

Kritik an der Titelgeschichte des Magazins weist der Redakteur aus dem Ressort Gesellschaft zurück. Er sehe „keine Schieflage“ und auch „keine tendenziöse Parteinahme“, sagt Schmitz auf Anfrage. Er versichert, die bei ihm eingegangenen Reaktionen auf seinen Text seien fast ausnahmslos positiv gewesen.

Artikelbild: Screenshot stern.de, canva.com

 

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