Comstock Act: Das vergessene Gesetz, das Abtreibung in den ganzen USA verbieten könnte

Das vergessene Gesetz, das Abtreibung landesweit verbieten könnte – ohne, dass Republikaner ein neues Abtreibungsverbot verabschieden müssten: der Comstock Act.

Donald Trumps Standpunkt in Sachen Abtreibung hat in den letzten Wochen in deutschen Medien zahlreiche bestenfalls missverständliche, schlimmstenfalls offen irreführende Berichterstattung generiert. So schrieb die FAZ beispielsweise gegen eine Entscheidung des Arizona SCOTUS, ein 160-Jahre altes Abtreibungsverbot gelten zu lassen, wirke “plötzlich sogar Trump gemäßigt”. Und sicher – Trump hatte, wie einige Republikaner, die den öffentlichen Backlash gegen das Urteil registriert hatten, mit Blick auf die Wahl im November sanfte Kritik an der Gerichtsentscheidung geübt.

Dabei wurde jedoch übersehen, dass Trump nach wie vor damit prahlt, dass “sein” SCOTUS das Grundsatzurteil Roe v. Wade 2022 gekippt hat – und damit die Entscheidung des Arizona SCOTUS (die völlig absehbar war) überhaupt erst möglich gemacht hat. Anfang April titelte die Frankfurter Rundschau “Trump plötzlich für das Recht auf Abtreibung – und verärgert damit Erzkonservative”, nachdem Trump ein Statement zum Thema Abtreibung gegeben hatte. Hatte Trump sich darin tatsächlich für Abtreibung ausgesprochen? Keinesfalls. Doch auch zahlreiche andere Medien – in Deutschland wie den USA – verbreiteten Varianten von “Trump sagt, die Regelung von Abtreibung soll den einzelnen Bundesstaaten überlassen sein”. 

Screenshot ZDF

Tatsächlich hatte Trump in dem kurzen Videoclip nicht “abortion should be left to the states”, sondern “will be left to the states” gesagt. Er beschreibt also nicht seine eigene Position, sondern lediglich die de facto aktuelle Lage – die dazu geführt hat, dass Bundesstaaten wie Texas, Idaho und Arizona drakonische Abtreibungsverbote geltend machen können. 

In demselben Video behauptete er eine alte Lüge der Forced-Birth-Bewegung: Dass Demokraten die Hinrichtung Neugeborener befürworten würden – das ging in den irreführenden, atemlosen Schlagzeilen unter. 

Trump war das gelungen, worauf das Statement abgezielt hatte: Seine Position nicht zu verändern, aber einer in diesem Wiederholungswahlkampf zutiefst gelangweilten Medienlandschaft genug Brocken hinzuwerfen, um für ihn positive Schlagzeilen in Sachen Abtreibungsrecht zu generieren – dringend nötig für die GOP, deren Position zum Thema Abtreibung bei der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung zutiefst unbeliebt ist. 

Trump muss sich außerdem überhaupt nicht für ein landesweites Abtreibungsverbot aussprechen – denn die US-amerikanische Rechte hat längst einen Plan, wie sie ein solches durchsetzen kann, ohne, dass dafür ein neues Gesetz verabschiedet werden muss. 

Trumps Verbündete planen, eine Gruppe weitgehend vergessener, noch geltender Gesetze nach mehr als fünfzig Jahren wieder anzuwenden – bekannt als sogenannter “Comstock Act”. 

Der Comstock Act von 1873 ist eine Ansammlung von Gesetzen, die die Verbreitung von „obszönen, unzüchtigen oder lasziven Materialien“ auf dem Postweg verbietet. Darunter fielen sowohl Texte als auch Verhütungsmittel oder Informationen über Verhütung sowie Pornographie und Utensilien, die für Abtreibungen benötigt wurden. Anthony Comstock war ein religiöser Fanatiker, der sich damit brüstete, Abtreibungsgegner in den Selbstmord und Feministinnen ins Gefängnis zu stecken. Andrew Seidel, Verfassungsrechtler und Sprecher für die Organisation “Americans United for the Separation of Church and State”, sagte mir zum Namensgeber der Gesetze, Anthony Comstock: 

“Dieser Mann hat säkulare Macht missbraucht, um seine persönlichen religiösen Überzeugungen allen anderen aufzuzwingen. Er war für Bücherverbrennung und ein christlicher Fanatiker der übelsten Sorte.” 

Die Forced Birth Bewegung, die sich so gerne Pro Life nennt, hat jetzt vor, den Comstock Act wieder anzuwenden. Nicht “nur” auf Medikamente, z.B. auf Pillen, mit denen man zu Hause selbst eine Abtreibung durchführen kann – eine Idee, der zumindest zwei Richter des SCOTUS, Clarence Thomas und Samuel Alito, bei einer jüngsten Anhörung, positiv gegenüber zu stehen schienen. Sondern im Bezug auf alles, was bei einer Abtreibung gebraucht wird. Auch medizinisches Gerät. Denn in wörtlicher Auslegung lässt sich Comstock auf alles beziehen, was mit der Post irgendwie geliefert wird und in der Interpretation des Gerichts als “obszön” oder “anstößig” gilt – irgendetwas, das im entferntesten Sinne mit Sex zu tun haben könnte. 

Moira Donegan schreibt im Guardian über diese Strategie:

“Es ist keine solide Rechtstheorie, aber wie viele schwach begründete, extrem sexistische und ehemals randständige Argumente findet sie nun vor dem Obersten Gerichtshof Gehör. Bei der mündlichen Verhandlung im letzten Monat in einem Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit des Abtreibungsmedikaments Mifepriston ging, erwähnten die Richter Samuel Alito und Clarence Thomas beide Comstock und deuteten damit an, dass irgendjemand – vielleicht die FDA, vielleicht die Pharmaunternehmen – verpflichtet sei, Abtreibungsmedikamente nach dem Gesetz zu unterdrücken. Comstock stand im Mifepriston-Fall gar nicht zur Debatte, aber die Kommentare der Richter bezogen sich nicht wirklich auf den vorliegenden Fall. Vielmehr waren sie ein Signal, eine Botschaft an die konservative Rechtsbewegung: Wenn ihr uns einen Fall vorlegt, der darauf abzielt, die Abtreibung nach Comstock zu verbieten, so die Richter, werden wir dafür stimmen.”

Dass die amerikanische Rechte vorhat, Comstock zu nutzen, um Abtreibung 2025 landesweit zu verbieten, ist keine Verschwörungstheorie – führende Mitglieder sagen es selbst: wie beispielsweise Jonathan Mitchell, der Autor des drakonischen texanischen Kopfgeld-Gesetzes von 2021, mit dem Abtreibung in Texas effektiv verboten wurde – der laut der New York Times folgendes bemerkte: 

„Wir brauchen kein landesweites Verbot, wenn wir Comstock haben. Es gibt ein ganzes Sammelsurium an Möglichkeiten“. 

Über Trump sagte er: 

“Ich hoffe, er weiß nichts von der Existenz von Comstock, denn ich möchte nicht, dass er sich verplappert. Ich denke, die Pro-Life-Gruppen sollten ihren Mund bis zur Wahl so weit wie möglich geschlossen halten.“

Auch im “Project 2025” der Heritage Foundation, der Blaupause für jede nächste Republikanische Regierung im Weißen Haus, sieht eine extreme Lesart des Comstock Acts vor. Moira Donegan schreibt im Guardian, Heritage nenne diese maximalistische Auslegung:

“… und das daraus resultierende landesweite Abtreibungsverbot als eine ihrer Prioritäten in ihrem ‘Projekt 2025’ […]. In der Zwischenzeit haben 119 republikanische Abgeordnete und 26 republikanische Senatoren in einem Amicus-Schreiben an den Obersten Gerichtshof im Mifepriston-Fall das Gericht aufgefordert, Abtreibung landesweit unter Anwendung von Comstock zu verbieten.”

Sind diese Pläne tatsächlich durchsetzbar? Die Gesetzeslage sei unübersichtlich, sagt Seidel mir, weil es mindestens drei Bundesgesetze gebe, die als “Comstock Acts” bezeichnet werden: 

“Eines davon befasst sich mit DC und eines hat das andere ersetzt oder ergänzt. Dann gibt es noch eine Reihe von Gesetzen auf Bundesstaatsebene, die alle darauf abzielen, den Versand ‘obszöner Dinge’ per Post zu unterbinden. ‘Obszön’ war das entscheidende Wort, denn es ging im Grunde um alles, was mit Sex zu tun hatte, und oft auch um Dinge, die als gotteslästerlich galten. Comstock hat sich zum Beispiel einmal geweigert, etwas per Post zu verschicken, weil die Bibel darin falsch zitiert wurde und er das für gotteslästerlich hielt. Es gibt also eine ganze Reihe von Gesetzen mit den unterschiedlichsten Formulierungen, und die Formulierungen sind vage, und als ‘obszön’ gilt das, was für die Person, die das Gesetz durchsetzt, obszön ist.”

Der zweite wichtige Faktor, den es zu beachten gilt, sagt Seidel, seien die zahlreichen Gerichtsurteile, die diese bestehenden Gesetze eingeschränkt hätten:

“Wenn also jemand auf der Grundlage des Comstock-Gesetzes selbst strafrechtlich verfolgt wird, ficht er dieses Gesetz an, oder eine Bürgerrechtsgruppe ficht es für ihn an, und das Gesetz wird durch das Urteil weiter ausgehöhlt. Aber dann gibt es noch eine dritte Ebene, nämlich größere Entscheidungen, zum Beispiel Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, die die Gesetze untergraben, zum Beispiel das Urteil im Fall Griswold gegen Connecticut, das besagt, dass man ein Recht auf Empfängnisverhütung hat. Das nimmt einen großen Teil der Comstock-Gesetze weg. Und das ist das Problem, mit dem wir jetzt konfrontiert sind, denn Roe versus Wade hat ein Recht bestätigt, das von Comstock berührt wurde, jetzt aber nicht mehr gilt. Das ist ein Teil dessen, womit wir es im Moment zu tun haben.”

Entsprechende Richter, die offen verkünden, dass Comstock ihrer Ansicht nach durchsetzbar ist, finden sich nicht nur am Obersten Gerichtshof, sondern auch auf Bundesebene, sagt Seidel:

“Das ist das Erschreckende: Es gibt einen aktuellen Bundesrichter, Matthew Kacsmaryk, ein unverhohlener christlicher Nationalist, der sagt, ja, das Comstock-Gesetz gilt und verbietet es, Abtreibungspillen mit der Post zu verschicken, während ein anderer Bundesrichter genau das Gegenteil sagt. Kurz: Es wird von den Richtern abhängen. Und deshalb ist die Wahl im November so wichtig, denn wenn Trump an die Macht kommt und das Projekt 2025 umgesetzt wird und der administrative Staat unter die Kontrolle dieser Leute gerät, wer weiß, was dann passieren wird? Sie werden in der Lage sein, den Comstock Act wieder in Kraft zu setzen, sobald sie glauben, dass dies in ihrer Macht steht, und man kann sich denken, wie das ausgehen wird.” 

Dazu kommt, dass der Chef des US-Post, Louis DeJoy, nach wie vor ein von Trump ernannter Beamter ist – Biden könnte seinen eigenen Postmaster General ernennen, hat das aber nicht getan. 

Seidel warnt: 

“Das bedeutet, dass Trump, wenn er wieder im Amt ist, diese Pläne gleich am ersten Tag umsetzen könnte. Unmittelbar, innerhalb der ersten Stunde nach seinem Amtsantritt, weil er bereits über das Personal [an den nötigen Stellen] verfügt. Das ist zutiefst beunruhigend.”

Das Justizministerium der Biden Regierung hatte nach dem Dobbs-Urteil 2022 ein Statement veröffentlicht, in dem es betonte, dass die Gerichte des Landes schon vor den SCOTUS Entscheidungen Griswold (1965) und Roe (1973) den Comstock Act deutlich breiter ausgelegt hatten, und deswegen das Dobbs-Urteil nichts an dieser Auslegung ändere: 

“In der Mitte des Jahrhunderts herrschte Einigkeit darüber, dass keine der Bestimmungen des Comstock Act, einschließlich Abschnitt 1461, einem Absender die Übermittlung solcher Gegenstände verbietet, wenn der Absender nicht beabsichtigt, sie unrechtmäßig zu verwenden.”

Das würde in einer Welt, in der der SCOTUS “precedent” – also Präzedenzfälle, auf die sich das Gericht geeinigt und nach denen es sich in seiner weiteren Auslegung der Verfassung Jahrzehnte lang orientiert hat – respektiert, zur Beruhigung genügen. Doch in seiner aktuellen erzkonservativen Besetzung hat SCOTUS wieder und wieder gezeigt, dass er sich nicht um “precedent” schert, wenn dieser nicht in die eigene reaktionäre Agenda passt. 

Andrew Seidel macht die Aussicht, dass der aktuelle SCOTUS in Zukunft über die Anwendbarkeit von Comstock entscheiden könnte, große Sorgen: 

“Ich bin nicht sicher, wie sich die anderen Richter im ultrakonservativen Block des Supreme Courts positionieren werden, aber ich bin nie optimistisch, dass sie das Richtige tun werden. Es ist möglich, dass sie eine Art Scheibchentaktik anwenden und quasi kleine Stücke vom großen Apfel abbeißen, und so Beamten die Macht geben, den Postversand von Verhütungs- oder Abtreibungsmitteln zu verbieten. Das kann ich mir gut vorstellen. Es ist leicht vorstellbar, dass einige dieser Richter sich Thomas und Alito anschließen, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen, nicht zuletzt aus der Tatsache, dass diese Gesetze nicht aufgehoben wurden.”

Seidel rechnet mit dem Schlimmsten: 

“Weil es so viel Verwirrung und Unsicherheit gibt, wird ein immenser Teil der Entscheidungsmacht bei den Leuten liegen, die bereits in Machtpositionen sind. Wir wissen, dass christliche Nationalisten ihre Macht missbrauchen werden, um ihre persönlichen religiösen Überzeugungen allen anderen aufzuzwingen, so wie es Anthony Comstock getan hat. Das ist ihr Hauptgeschäft. Das ist es, was sie zu tun versuchen. Ja, sie werden dieses Gesetz nutzen, wenn sie können.”

Besonders bizarr erscheint vor dieser realen Bedrohung, dass Demokraten mit diesen drakonischen Plänen christlicher Nationalisten den Stand reproduktiver Rechte zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu befördern, bisher keinen Wahlkampf machen. Seidel sagte mir, er könne nicht verstehen, weshalb Demokraten in diesem so wichtigen Wahlkampf nicht einmal versuchen würden, Republikaner mit Comstock unter öffentlichen Druck zu setzen, wie sie es mit der Entscheidung des Arizona Supreme Courts getan haben, als der ein Abtreibungsgesetz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gelten ließ: 

“Demokraten sollten lauthals die Aufhebung von Comstock fordern, sie sollten das zum Wahlkampf-Thema machen. Das ist ein Gesetz, das verabschiedet wurde, bevor Frauen das Wahlrecht hatten. Sie sollten Republikaner dazu zwingen, dafür zu stimmen, und ihnen das im Wahlkampf um die Ohren schlagen. Und ich kann es nicht fassen, dass das nicht passiert. Es wäre ein effektives Werkzeug im Wahlkampf, dass zudem den Vorteil hätte, das alle Amerikaner schützen würde. Es sollte wirklich genutzt werden.”

Bisher scheint sich das Biden-Team jedoch darauf zu verlassen, dass es so weit schon nicht kommen wird – ein hohes Risiko, das den Gegner unterschätzt – und die reproduktiven Rechte aller Amerikaner gefährdet. 

Artikelbild: Joseph Sohm

 

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